"Serebrennikov ist kein Dieb"
2. Juni 2017Es ist Dienstag, 23. Mai, später Nachmittag. Vor dem Moskauer Theater "Gogol-Zentrum" herrscht dichtes Gedränge. Eine junge Frau liest vor Journalisten eine kurze Erklärung vom Blatt ab. Freunde von Kirill Serebrennikov und seinem Theater "Gogol-Zentrum" seien "tief erschüttert" und solidarisierten sich mit ihm. Stunden zuvor haben Ermittler Serebrennikov Wohnung und sein Theater durchsucht. Der Verdacht: Veruntreuung von Staatsgeldern in Millionenhöhe bei einem Projekt. "Wie heißen sie?" ruft einer, der die zierliche Frau in der Menge offenbar nicht gesehen hat. "Das war Tschulpan Chamatowa", sagt ein anderer. Manche lachen.
Schauspielerin und moralische Instanz
Chamatowa ist in Russland fast eine Institution. Die 41-jährige Theater- und Filmschauspielerin gilt als die wohl beste ihrer Generation. Sie stammt aus Kasan in der russischen Teilrepublik Tatarstan. Vor mehr als zehn Jahren lebte Chamatowa in Deutschland und wirkte in Experimentalfilmen wie "Tuvalu", aber auch in Kassenhits wie "Good Bye, Lenin!" mit. Dann kehrte sie zurück, drehte in Russland, wurde mehrfach ausgezeichnet und ist heute führende Schauspielerin am traditionsreichen Theater "Sowremennik" in Moskau. Außerdem gilt die dreifache Mutter auch als moralische Instanz. Als Mitbegründerin der Stiftung "Leben schenken" genießt sie hohes Ansehen für ihr Engagement für schwerkranke Kinder.
"Kirill ist mein Freund, ich vertraue ihm wie mir selbst", sagte die Schauspielerin über Serebrennikov in einem Gespräch mit der DW-Reporterin Zhanna Nemtsova. Es sei ihr wichtig gewesen, dem Regisseur ihre Unterstützung zu zeigen: "Ich wusste ganz genau, dass Kirill kein Dieb ist." Er sei ein "anständiger Mann und einmaliger Künstler", so Chamatowa in der Sendung "Nemtsova.Interview".
Der auch im Westen gefeierte Theater- und Filmregisseur wurde als Zeuge vernommen und freigelassen. Er bestreitet die Vorwürfe gegen die von ihm gegründete Firma und nannte die Ereignisse "eine ungeheure Ungerechtigkeit". Serebrennikov ist einer der wenigen renommierten Künstler Russlands, der regelmäßig die Regierung und die Gesellschaft kritisiert. Sein neuester Spielfilm, "Der die Zeichen liest" (2016), ist eine schwarze Komödie über einen jungen religiösen Fanatiker im heutigen Russland.
Anfeindungen wegen Werbespots für Putin
Für Chamatowa ist die unausgesprochene und doch angedeutete Kritik am Vorgehen der russischen Justiz im Fall Serebrennikov ein ungewöhnlicher Schritt, denn sie hält sich sonst aus der Politik heraus. "Ich habe große Angst vor Einschätzungen, mache so etwas so gut wie nie", räumt die Schauspielerin ein. "Doch wenn so etwas wie am 23. Mai geschieht, dann wirkt es wie eine politische Äußerung."
Zuletzt machte Chamatowa 2012 eine Ausnahme für Wladimir Putin. Wie viele andere berühmte Persönlichkeiten drehte sie einen Werbespot für den damaligen Präsidentschaftskandidaten. Putin habe ihre Stiftung für Kinder stets unterstützt, sagte sie damals in einem halbminütigen Video.
Diese politische Werbung machte die Schauspielerin zur Zielscheibe für Anfeindungen seitens der Putin-Gegner, vor allem in sozialen Netzwerken. Später sagte Chamatowa, niemand habe sie gezwungen und sie würde den Werbespot nochmals drehen, wenn dadurch in Russland ein weiteres neues Krankenhaus gebaut werde. Für Resonanz sorgten auch Chamatowas Ansichten über die damalige Protestbewegung gegen Putin. In einem Interview sagte die Schauspielerin, Verhältnisse wie in Nordkorea seien besser als eine Revolution in Russland. Auch diese Äußerung schlug hohe Wellen in den Oppositionskreisen.
"Die Grenze ist mein Gewissen"
Doch es hat auch Angebote gegeben, die Chamatowa abgelehnt hat. Im März 2014 habe sie sich geweigert, einen offenen Brief der Kulturschaffenden mitzuunterzeichnen, die das Vorgehen Putins auf der Krim begrüßten. "Ich verstehe nicht, wer da im Recht und wer im Unrecht ist", erklärt sie.
Außerdem sei es ein Mythos, dass die Schauspielerin "jede Tür öffnen kann". So habe sie erfolglos versucht, ein umstrittenes Gesetz zu kippen, das seit 2013 die Adoption russischer Kinder durch US-Amerikaner verbietet. "Das ist große Politik", sagt sie. "Und bei großer Politik ist es wohl so, dass ein Mensch sie [die Politiker, Anm. d. Red.] nicht besonders interessiert."
Auf die Frage, wo für sie die Grenze eines Kompromisses mit der Regierung liege, sagte Chamatowa: "Die Grenze ist mein Gewissen." Wenn sie damit einen Konflikt habe, sei ein Kompromiss unmöglich.
"Nemtsova.Interview" ist der Titel einer wöchentlichen Sendung der russischen Journalistin Zhanna Nemtsova bei der DW. Das kritische Talk-Format fokussiert auf Interviews mit führenden europäischen, russischen und US-amerikanischen Politikern und Intellektuellen, die eine starke Haltung zu Russland haben.