Ein Jahr als Geisel syrischer Terroristen
8. April 2019Schlimmes passiert immer anderen, nie einem selbst. So in etwa wird Janina Findeisen gedacht haben, als sie beschließt, in ein Krisengebiet zu reisen - mitten hinein in den syrischen Bürgerkrieg. Der Grund: Exklusives Material aus erster Hand von Terroristen und Dschihad-Anhängern, die im Chaos des Bürgerkriegs an Boden gewinnen.
Den Kontakt zu dieser Gruppe soll Laura herstellen, eine alte Schulfreundin aus der Heimat. Laura war zehn Jahre zuvor ins pakistanische Stammesgebiet nach Wasiristan gereist, hatte sich zum Dschihad bekannt und war nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt.
"Das sollte mein Debutfilm werden, der die Geschichte der Freundschaft zu Laura erzählt", sagt die Journalistin im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Das war im Herbst 2015. Findeisen fliegt mit Lauras Mutter in die Türkei nach Antakya. Dort warten Schleuser, die sie zu Laura bringen sollen. Die Situation an der Grenze ist aufgeheizt, Grenzbeamte prügeln auf Flüchtlinge ein, Bomben fallen in der Nähe. Lauras Mutter entschließt sich, umzukehren.
Die hochschwangere Findeisen fährt alleine weiter, trotz aller Warnungen. "Es gab eine Sicherheitsgarantie, die mir tatsächlich Sicherheit vermittelt hat. Sie hatte Bedeutung für mich. Das war naiv aus heutiger Perspektive, aber zum damaligen Moment hab ich es anders eingeschätzt", erklärt sie ihre Entscheidung.
Das Wort der Freundin als Sicherheitsgarantie
"Es gibt Sicherheitsgarantien für Journalisten in bestimmten Situationen. Die Sicherheitsgarantie in meinem Fall wurde mir per E-Mail von meiner Freundin geschickt. Das basierte auf Vertrauen. Ihr Wort hat mir in diesem Moment auch gereicht", erläutert Findeisen.
Die Sicherheitsgarantie reicht in der Tat aus, vorerst. Die Schleuser bringen sie nach Nordsyrien. Dort trifft sie ihre Freundin, verbringt acht Tage mit ihr. Findeisen kann tatsächlich mit der Dschihadistin an die gemeinsame Bonner Schulzeit anknüpfen. "Sie war immer noch meine Freundin; wir kannten uns schon zu lange. Es war natürlich zu viel passiert, dass ich sagen könnte, es war so wie früher. Aber: Wir haben ein Vertrauensverhältnis. Das war die Basis, worauf wir auch gesetzt haben, warum diese Reise überhaupt entstanden ist."
Die Freundinnen reden viel miteinander, Janina führt Interviews mit ihr und einem Kommandeur der Al-Kaida-nahen Al-Nusra-Front, der auch Laura angehört. Es ist die Terrorgruppe, von der Findeisen auch später entführt wird.
Sie fahren durch die Gegend. Janina macht sich keine Sorgen. "Wir sind durch Nordsyrien gefahren, durch Idlib, und ich habe aus dem Fenster unseres Autos gefilmt", erzählt sie, "die Situation dort auf den Straßen, an den verschiedenen Checkpoints, die Straßenzüge, die bombardierten Vororte."
Als Janina Findeisen genug Material für ihren Film hat, verabschiedet sie sich von ihrer Freundin und fährt mit einem Taxi Richtung türkische Grenze. Ein Kämpfer von Lauras Gruppe begleitet sie. Kurz vor der Grenze wird das Auto gestoppt: "Ich hatte schon kurz vorher ein komisches Gefühl. Das Taxi fuhr mal zu langsam, mal zu schnell und dann wurde es gestoppt von mehreren Männern mit Sturmmasken und Kalaschnikows", erzählt sie. "Sie zogen den Fahrer und den Beifahrer aus dem Wagen und stiegen ein. Dann hat sich jeweils ein Kämpfer neben mich gesetzt. In dem Moment hatte ich unfassbare Angst, war aber zugleich total ruhig, denn ich merkte: Ich kann nichts tun."
Deutsche Welle als Verbindung zur Außenwelt
Die Entführer verbinden der Hochschwangeren die Augen und fahren weiter. Es war der erste von 351 Tagen Geiselhaft. Sie wird alle paar Monate zu einem anderen Haus gebracht - neun insgesamt - und ohne zu wissen, wo sie ist.
Sie fügt sich und tut, was man ihr befiehlt: Ruhig sein, nicht schreien, nicht versuchen zu fliehen. Man bringt ihr Essen und Kleidung, das Zimmer darf sie nie verlassen. Wenn sie umziehen, bekommt sie eine Augenbinde und darf sie erst ablegen, wenn sie im neuen Haus sind. Irgendwann stellt man ihr einen kleinen Fernseher ins Zimmer. Wenn es mal Strom gibt, schaut sie Deutsche Welle. Das ist ihre einzige Verbindung zur Außenwelt.
Als die Geburt näher rückt, wird Janina ungeduldig. Sie simuliert mehrfach Wehen, in der Hoffnung, in ein Krankenhaus gebracht zu werden. Vergeblich. "Die Entführer haben dann eine Frauenärztin aus Nordsyrien zu mir gebracht", sagt sie. "Sie hatten ihren Ehemann entführt, damit sie nichts erzählt und sich mit vollem Einsatz um die Geburt kümmert. Sie haben ihr gesagt, wenn mir oder dem Kind was passiert, stirbt ihr Ehemann. Das hat sie mir irgendwann bei ihren Besuchen unter Tränen gebeichtet."
Die Geburt verläuft ohne Komplikationen. Ab diesem Tag verändert sich ihr Leben für immer. "Plötzlich war alles ganz weit weg: der Krieg, meine Entführer. Da waren nur noch ich und mein Sohn", sagt sie. Man kümmert sich um sie und das Kind. Die Entführer besorgen ihr Multivitaminsaft und Windeln. Auch die Frauenärztin schaut vorbei. Die junge Mutter hat großes Glück: Ihr kleiner Junge wird in den ersten Monaten nicht krank und - sie kann ganz für ihn da sein. Zwar hat sie immer noch große Angst, vertraut aber darauf, dass alles gut gehen wird. Sie hat keine andere Wahl. Dennoch macht sie sich keine Illusionen: "Die Entführer waren jederzeit bereit, mir vor laufender Kamera den Kopf abzuschneiden. Das war vollkommen klar."
Wie hält man so einen Druck aus? "Indem man Deutsche Welle guckt", antwortet die Journalistin und lächelt. "Und ich habe versucht, mich an meine schönsten Erinnerungen zu klammern. An meine Kindheit, an meine Jugend, an mein bisheriges Leben, was ich in vollkommener Sicherheit und Wohlstand geführt hatte. Diese Erinnerung habe ich jeden Tag beschworen. Ich habe erst die Stunden, dann die Tage gezählt. Irgendwann hatte ich schon 100 Tage geschafft."
Der Weg nach Hause
Nach elf Monaten Gefangenschaft geschieht das Unerwartete: Vermummte Männer stürmen das Haus, in dem Janina festgehalten wird. Sie rufen laut ihren Namen und holen sie heraus. Die junge Mutter ist verwirrt, versteht nicht, was da gerade geschieht. "Ich dachte, es ist eine andere dschihadistische Gruppe, die mich übernehmen wollte", erzählt sie. "Ich dachte nicht, es ist eine Befreiung. Ich dachte, es wäre eine neue Entführung."
Die Befreier sollen Kämpfer einer anderen Al-Nusra-Gruppe sein. Sie wollen sich doch zur Sicherheitsgarantie bekennen und Wort halten. Nach einem knappen Jahr! So wird es Findeisen zumindest später erzählt. Sie nehmen ihr die Augenbinde ab und bringen sie mit ihrem Sohn zu einem Wagen. Der bringt sie direkt zur türkischen Grenze. Dort warten bereits deutsche Sicherheitsbeamte. Mutter und Kind sind endlich in Sicherheit.
Hochschwanger nach Syrien. Heute weiß sie: Das war ein Fehler. Nach ihrer Rückkehr hat sie über die Zeit bei den Terroristen ein Buch geschrieben. "Das Schreiben hat mir geholfen, das Erlebte zu verarbeiten."