Sieg für die türkische Demokratie
8. Juni 2015Jubel und Autokorsos in Deutschland: In Frankfurt, Hamburg und anderen Großstädten haben Kurden das Ende der absoluten Mehrheit von Erdogans Partei AKP und den Erfolg der pro-kurdischen HDP gefeiert. Die Partei von Selahattin Demirtas (Artikelbild) hat die zehn Prozent-Hürde geschafft. Mehmet Tanriverdi, stellvertretender Vorsitzender der kurdischen Gemeinde in Deutschland, freut sich darüber: "Jetzt wird sich etwas tun. Die HDP ist ein Gewinn", sagte er im Gespräch mit der DW.
Eher skeptisch äußerte sich Fevzi Aktas von Komkar, dem Verband der kurdischen Vereine in Deutschland. Aktas gehen die Ziele der HDP nicht weit genug. So fehle die deutliche Forderung "nach einem eigenständigen Staat für die Kurden". Auch für einen "Unterricht in kurdischer Sprache" setze sich die HDP nicht genügend ein. Es gehe wohl eher um die "Türkisierung" der Kurden. Aktas vermutet, dass die gemäßigte Zielsetzung wohl nur dazu diente, Wählerstimmen auch unter Kemalisten zu bekommen.
Gespaltene Stimmung unter Deutsch-Türken
1,4 Millionen Türken in Deutschland konnten an den Wahlen teilnehmen, ein Drittel von ihnen gaben ihre Stimme ab. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu vermeldete, dass - anders als in der Türkei selbst - 53 Prozent der Türken in Deutschland für Erdogans AKP stimmten.
Hört man sich in Moscheen oder türkischen Cafes um, gibt es meistens zwei unterschiedliche Meinungen: "Wir brauchen einen starken Mann für die Türkei" und "Wir wollen keinen totalitären Sultan".
Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofouglu, sieht den Wahlausgang positiv. "Die türkischen Wähler haben sich für die parlamentarische Demokratie entschieden." Die Stimmverluste der AKP wären sicher auch nicht so deutlich ausgefallen, wenn die Partei Erdogans sich anderen Parteien nicht verweigert hätte und die Haltung gegenüber Presse und Justiz nicht so hart gewesen wäre, so die Einschätzung Sofouglus. Für eine Bewertung des Wahlausgangs müsse man aber noch die Regierungs- und Koalitionsverhandlungen abwarten. Jetzt schon von einer Abkehr von der Islamisierung der Türkei oder von einer deutlichen Hinwendung zu Europa zu sprechen, hält Gökay Sofouglu für übertrieben.
Mehrheit der Außenpolitiker begeistert
"Ein großer Sieg für die türkische Demokratie", "Eine notwendige Warnung an Erdogan", "Eine Absage an die Ein-Mann-Diktatur", "Ein klares Nein zur Politisierung der Religion", "Endlich Schluss mit dem Präsidialstil": Die Reaktionen deutscher Außenpolitiker auf das Wahlergebnis in der Türkei überschlagen sich in ihrer positiven Bewertung - über alle Parteigrenzen hinweg. Dietmar Nietan und Niels Annen sitzen für die SPD im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags und begrüßen den Dämpfer für Ministerpräsident Erdogan. Sie loben "die Reife der türkischen Wähler".
Roderich Kiesewetter von der CDU stellt heraus, dass die Wahlen fair abgelaufen seien. Jetzt sei es Zeit, der Türkei klare Angebote zu machen, die bisherige "privilegierte Partnerschaft" statt einer Vollmitgliedschaft in der EU weiter zu entwickeln. "Wir brauchen die Türkei als Bündnispartner gegen die Islamisierung des westlichen Balkans", so Kiesewetter. Eine Idee wäre, die Türkei eventuell auch in die EDA, die "European Defense Agency", einzubeziehen. Kiesewetter wolle sich nach den Koalitionsverhandlungen dafür einsetzen.
Die Deutschen mit türkischen Wurzeln machen in der Bundesrepublik rund vier Prozent der Bevölkerung aus, im Bundestag gibt es elf türkischstämmige Abgeordnete. Am längsten dabei ist Cem Özdemir (Die Grünen), der als Sohn türkischer Eltern ebenfalls im Auswärtigen Ausschuss des deutschen Bundestags die Entwicklungen in Ankara mit besonderem Interesse verfolgt. "Was wir hier sehen, ist ein klares Stopp-Signal an den Präsidenten, an nationalistische und religiös-fundamentalistische Klänge und ein Signal, dass viele Menschen in der Türkei eine Fortsetzung des Friedensprozesses mit den Kurden wünschen." Özdemir freut sich, dass die HDP nicht nur den Kurden, sondern auch vielen anderen ethnischen Minderheiten - Armeniern, Roma, Assyrern und Jesiden - die Gelegenheit gebe, sich politisch einzubringen. Das werde den Politikstil insgesamt ändern. "Die Türkei ist jetzt schon nicht mehr die alte Türkei", so Özdemir.