Siemens bietet Google die Stirn
7. Mai 2014Eine halbe Stunde braucht Siemens-Chef Joe Kaeser, um seine Vision 2020, wie er den größten strategischen Konzernumbau seit Jahren nennt, zu umreißen. Er werde versuchen, so prägnant wie möglich vorzutragen, hat er den Analysten und Journalisten versprochen, die nach Berlin gekommen sind, wo die Halbjahresbilanz präsentiert wird. "Auch wenn wir Stoff für drei bis vier Pressekonferenzen mitgebracht haben." Der 56-jährige spricht im Stehen, denn, so sagt er, da könne man sich besser bewegen. "Und das ist ja auch, was Strategie eigentlich bedeutet. Man bewegt sich und dann hoffentlich auch noch in die richtige Richtung."
Dass der Konzern in den vergangenen Jahren in die falsche Richtung gelenkt worden ist, daraus macht Joe Kaeser, der vor gut neun Monaten das Ruder bei Siemens übernommen hat, keinen Hehl. "Es war damals sehr viel Unruhe im Unternehmen. Viele Aktionen waren auf Kurzfristigkeit ausgelegt, es fehlte die längerfristige Perspektive und damit fehlte auch, wofür dieses Unternehmen denn wirklich steht." Fast könnte man meinen, dass Kaeser im August letzten Jahres frisch bei Siemens angeheuert hat. Dabei war er zuvor sieben Jahre lang Finanzvorstand des Konzerns und damit Teil der Führungsriege um den damaligen Vorstandschef Peter Löscher.
Knallharte Abrechnung
Mit dessen Strategie und Führungsstil will Kaeser brechen. Löscher hatte Siemens in die Sektoren Energie, Infrastruktur und Städte, Industrie und Gesundheitswesen aufgeteilt. Kaeser schafft die vier Großsektoren wieder ab. Der Konzern mit seinen 360.000 Mitarbeitern soll künftig in neun Divisionen gegliedert werden und sich auf die Energietechnik und moderne Fabrikausstattung (Digital Factory) konzentrieren.
Nachdem sich Siemens in den letzten Jahren bereits von der Telekommunikation und der Halbleitertechnik getrennt hat, soll nun auch die traditionsreiche Sparte der Schwerindustrie an Bedeutung verlieren. Das Geschäft mit Anlagen, Produkten und Dienstleistungen für die Eisen-, Stahl- und Aluminiumindustrie wird künftig mit Mitsubishi Heavy Industries aus Japan betrieben werden. Beide Unternehmen bilden ein Joint Venture für die Metallindustrie, Siemens wird sich mit einem Minderheitsanteil von 49 Prozent begnügen.
Geschäftsmodell Daten
Das Kerngeschäft des Konzerns soll sich in Zukunft auf die Bereiche "Elektrifizierung, Digitalisierung und Automatisierung" konzentrieren. Die Energiesparte wird mit dem Kauf des Gasturbinengeschäfts der britischen Rolls-Royce für fast eine Milliarde Euro gestärkt. Zur Neuordnung gehört auch die Verselbstständigung der Medizintechnik und ein Börsengang für die Hörgeräte-Sparte, die Siemens vor Jahren erfolglos verkaufen wollte. "Der Konzern muss auf jeden Fall schlanker und effizienter werden", sagt Heinz Steffen von Fair Research. "Das heißt: Bereiche, die man nicht mehr zum Kerngeschäft zählt, werden auf jeden Fall nicht mehr weitergeführt, zum Beispiel der Bereich Hörgeräte. Der hat einen ganz anderen Marktzugang als das Industriegeschäft. Der Privatkunde ist nicht die Stärke von Siemens."
Zentrales Augenmerk legt Kaeser auf die Digitalisierung. "Daten sammeln, Daten generieren, Inhalte analysieren und die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen", das ist es, womit sich seiner Ansicht nach in Zukunft das meiste Geld verdienen lässt. Während die traditionellen Geschäfte mit der Elektrifizierung zwei bis drei Prozent Steigerung einbringen würden und die Märkte für die Automatisierung mittelfristig um vier bis sechs Prozent wachsen würden, liege die Dynamik rund um Software und Datenanalytik bei sieben bis neun Prozent.
Jeder Sensor hat etwas zu sagen
In der Kraftwerkstechnik, in der Stromübertragung und der Automatisierung der industriellen Fertigung sei Siemens schon jetzt führend. Eine zusätzliche Konzentration auf Daten werde das Geschäft nicht nur unterstützen, sondern zukünftig bestimmen. "Durch die breit installierte Basis in der Automatisierung und im Softwaregeschäft haben wir nicht nur Zugang zu diesen Daten, sondern auch ein tiefes Verständnis der Prozesse unserer Kunden. Unsere Maschinen, unsere Automatisierung, das ist der Ursprung der Daten." Was Kaeser damit meint, erklärt er an zwei Beispielen. Jede große Siemens-Turbine enthalte 1500 Sensoren und jeder Sensor habe etwas zu sagen. Jedes einzelne der rund 20.000 weltweit arbeitenden CT-Geräte generiere jeden Monat zwei Terabyte Daten. "Stellen sie sich vor, welches Wissen aus der Analytik dieser Daten gewonnen werden kann."
Aktuell arbeiten 8000 Softwareentwickler für Siemens, das sind vier mal mehr als vor zehn Jahren. "Und es werden mehr werden", verspricht Kaeser. "Andere hätten Angst vor Google und würden das zum Teil auch offen sagen. "Wir haben keine Angst, aber wir haben Respekt, weil wir nämlich schon da sind." Als weltweit erstes Unternehmen werde Siemens alle notwendigen Voraussetzungen und Aktivitäten für die digitale Fabrik unter einem Dach bündeln. "Damit schaffen wir ideale Voraussetzungen für den Ausbau unserer führenden Rolle bei der Realisierung der Industrie 4.0."
Personelle Konsequenzen
In sieben Punkte hat Joe Kaeser seine "Vision 2020" aufgegliedert. Über allem steht für ihn der radikale organisatorische Umbau. Die Hierarchien sollen flacher und straffer werden, auf diese Weise sollen bis Ende 2016 "nachhaltig Kosten in Höhe von einer Milliarde Euro" eingespart werden. Die Vorstände sollen mehr als bisher zur Verantwortlichkeit gezogen werden. "Es gibt klare Verantwortungen, es gibt klare Ziele und es wird auch klare Konsequenzen geben, im Guten wie auch im anderen Fall."
Was das heißt, bekommt der bisherige Energietechnikchef Michael Süß zu spüren. Er muss seinen Posten räumen und wird im August von der bisherigen Shell-Managerin Lisa Davis ersetzt. Sie soll dafür sorgen, dass Siemens stärker von der Öl- und Gasrenaissance in Nordamerika profitiert, von dem der Konzern bisher wenig hatte. "Da muss man Zeichen setzen und nicht nur drüber reden und deshalb werden wir die Aktionen dorthin lenken, wo sie für die Kunden und die Märkte relevant sind", sagt Joe Kaeser.
Das Forschungsressort für die Energieerzeugung und die Marktbetreuung für Amerika soll daher in die USA, nach Orlando verlegt werden. Dieser Schritt soll aber nur der Anfang sein. "Bis spätestens 2020 werden wir mehr als 30 Prozent unseres Managements von Divisionen und Geschäftseinheiten außerhalb Deutschlands angesiedelt haben", kündigt Kaeser an.
Größer, höher, weiter
Damit will er der globalen Aufstellung des Dax-Riesen deutlicher Rechnung tragen. Siemens ist in mehr als 200 Ländern dieser Welt aktiv, 86 Prozent des Umsatzes, der 2013 bei 76 Milliarden Euro lag, wird im Ausland erwirtschaftet. Ein Umsatz, der sich sichtbar steigern soll. "In mittlerer Zukunft wollen wir auf vergleichbarer Basis stärker wachsen als unsere fünf wichtigsten Wettbewerber, die im übrigen auch der Vergleichsmaßstab für unsere Vorstandsvergütungen sind", erklärt der Siemens-Chef.
Doch auch die Mitarbeiter sollen am zukünftigen Wachstum teilhaben und damit auch zufriedener werden. "Hier wollen wir dauerhaft einen Zustimmungswert von 75 Prozent erreichen." Die Eigentümerkultur soll gestärkt und weiter ausgebaut werden. Kaeser will die Zahl der Siemensmitarbeiter, die Aktien des Konzerns besitzen, auf 200.000 steigern.
Kein Kommentar zu Alstom
Mehr als zwei Stunden lang steht Joe Kaeser auf der Analysten- und Pressekonferenz zur Verfügung und gibt bereitwillig Antworten auf die zahlreichen Fragen, die sein Konzept aufwirft. Wortkarg bleibt er allein beim Thema Alstom. Der Poker um die Energiesparte des französischen Konzerns wäre der größte Zukauf in der Siemens-Geschichte. Man sei ernsthaft interessiert, habe alle Einblicke und Auskünfte erhalten, die der Konzern brauche und werde sich nun noch Zeit für eine ausführliche Buchprüfung nehmen.
Mehr ist Joe Kaeser in Berlin nicht zu entlocken. Wie es aussieht, stehen die Sterne für Siemens allerdings nicht allzu gut. Der US-Konkurrent General Electric hat mit seinem Angebot von 12,35 Milliarden Euro die Zustimmung des Alstom-Verwaltungsrats und derzeit offenbar die Nase vorn. Joe Kaeser macht nicht den Eindruck, als werde seine "Vision 2020" erschüttert, sollte der Siemens-Konzern von Alstom eine Absage erhalten. Dann allerdings ist fraglich, was aus der Fahrzeugsparte von Siemens wird: "Da haben wir in der Vergangenheit immer wieder Krisennachrichten gehört: Die Straßenbahn macht Probleme, die ICE-Züge sind nicht gefahren - das ist genau dieser Bereich, den Siemens jetzt an Alstom abgeben will und wo Alstom dann künftig allein die Verantwortung hätte," beurteilt Stefan Schöppner, Analyst bei der Commerzbank die Lage.