Siemens: Musterkonzern und Global Player
12. Dezember 2016"Stellen Sie sich ein Leben ohne Laptop und ohne Beleuchtung vor - heute für jeden von uns undenkbar", so antwortet Frank Wittendorfer, Leiter des Firmenarchivs der Siemens AG, auf die Frage, ob unser Alltag anders aussähe, wenn es bestimmte Erfindungen und Produkte des Konzerns nicht gegeben hätte.
Werner Siemens, seit 1888 Werner von Siemens, wurde am 13.12.1816 in Lenthe bei Hannover geboren. Da seine Familie ihm kein Universitätsstudium finanzieren konnte, trat er 1835 in die preußische Armee ein. An der Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin absolvierte er eine dreijährige Fachausbildung in Mathematik, Physik, Chemie und Ballistik.
Sein erstes Patent erhielt der junge Erfinder 1842 für sein Verfahren der galvanoplastischen Vergoldung und Versilberung. Sein jüngerer Bruder Wilhelm konnte diese Erfindung in England kommerziell nutzen - ein erster Schritt zur Internationalisierung.
Junge Telekommunikationstechnik
Schon bald erfolgte der Einstieg in die damals noch junge Telekommunikations-Technik. Mit einfachen Mitteln - Zigarrenkisten, Weißblech, Eisenstückchen und isoliertem Kupferdraht - konstruierte Siemens einen eigenen sogenannten Zeigertelegrafen. Die Ausführung seines Apparats überließ er dem Mechaniker Johann Georg Halske, der von dem einfachen, aber zuverlässigen System überzeugt war. Unter dem Namen "Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske" gründeten beide im Oktober 1847 in Berlin ihr Unternehmen. In einem Hinterhaus in der Schöneberger Straße 19 richteten sie eine kleine Werkstatt ein. Eine Woche nach der Firmengründung wurde die Konstruktion des Zeigertelegrafen in Preußen patentiert - der Grundstein für den Weltkonzern Siemens.
Siemens entwickelte zudem ein Verfahren, mit dem die nahtlose Isolierung von Kupferdrähten möglich wurde. Neben dem Zeigertelegrafen hatte er damit eine weitere wichtige Voraussetzung für die Entstehung des modernen Nachrichtenverkehrs geschaffen. 1848 erhielt die Firma den staatlichen Auftrag für den Bau einer Telegrafenlinie von Berlin nach Frankfurt am Main. Sie wurde zum ersten großen Erfolg: Siemens gelang es, die Linie rechtzeitig zur Wahl des preußischen Königs zum Deutschen Erbkaiser fertig zu stellen.
Aufbruch in andere Länder
Als Anschlussaufträge des preußischen Staats ausblieben, sorgten Geschäfte mit Russland und England für neuen Aufschwung. 1853 begann Siemens & Halske mit dem Bau des russischen Telegrafennetzes. Die Länge dieses Netzes, das sich von Finnland bis zur Krim erstreckte, betrug rund 10.000 Kilometer. Hierfür wurden mit der russischen Regierung Wartungsverträge abgeschlossen.
1855 gründete Siemens eine russische Zweigniederlassung in St. Petersburg, deren Leitung er seinem Bruder Carl übertrug. Das Englandgeschäft verantwortete der Bruder Wilhelm, der später dorthin übersiedelte und sich Charles William Siemens nannte. 1858 wurde die englische Niederlassung "Siemens, Halske & Co." gegründet, die ab 1865 unter dem Namen "Siemens Brothers" firmierte.
Nachhaltige Überlebensstrategie
"Die Internationalisierung, die Werner von Siemens zusammen mit seinen Brüdern Carl und Wilhelm Anfang der 1850er Jahre betrieb, gehört zu den frühen Höhepunkten der Firmengeschichte", sagt Siemens-Archivleiter Frank Wittendorfer im Gespräch mit der DW. Dadurch wurde das Überleben des Unternehmens langfristig gesichert.
1866 dann die für Wittendorfer "alles überragende Erfindung": Siemens entdeckte das dynamoelektrische Prinzip. Damit wurde es möglich, elektrische Energie in großen Mengen wirtschaftlich zu erzeugen und zu verteilen. Im Unterschied zu anderen, parallel an diesem Problem arbeitenden Forschern, erkannte Werner von Siemens die wirtschaftliche Bedeutung seiner Erfindung. 1867 sicherte er sich die Verwertung durch Patente in Deutschland und England und stellte sie international vor.
Tüftler und Geschäftsmann
"Siemens war eben nicht ausschließlich der Erfinder, Techniker, Tüftler, sondern derjenige, der die Dinge serienreif auf den Markt brachte und dadurch unser aller Leben verändert hat", so Wittendorfer. "Ohne seine Dynamomaschine wäre eine Stromversorgung mit allen ihren Anwendungsgebieten im heutigen Sinne, wie wir das kennen, ganz und gar unmöglich."
Ab Ende der 1870er Jahre trat die Starkstromtechnik auch als Voraussetzung für die Elektrifizierung der Eisenbahnen ihren Siegeszug an: 1879 fuhr die erste elektrische Eisenbahn auf der Berliner Gewerbeausstellung. Ebenfalls in Berlin erstrahlte die erste elektrische Straßenbeleuchtung. 1880 folgte der erste elektrische Aufzug in Mannheim und 1881 die weltweit erste elektrische Straßenbahn in Berlin-Lichterfelde.
Stürmische Entwicklungen
Auch auf dem Gebiet der Telegrafie verlief die Entwicklung stürmisch: Für den Bau einer Telegrafenlinie von London nach Kalkutta hatte Werner von Siemens die bahnbrechende Idee, Depeschen per Induktionsstrom vollautomatisch und ohne Unterbrechung zu befördern. Die Firma erhielt den Auftrag, große Teile der 11.000 Kilometer langen Linie zu bauen, deren Einweihung am 12. April 1870 als Sensation gefeiert wurde.
Eine technische Meisterleistung war auch die erstmalige Verlegung von Seekabeln durch den Nordatlantik zwischen Europa und Amerika mit dem eigens für diesen Zweck konstruierten Kabelschiff "Faraday". Von nun an verbanden Kabel ganze Kontinente miteinander.
Etliche Gründungen von Tochterfirmen und Übernahmen folgten. 1903 gründete Siemens zusammen mit der AEG die "Gesellschaft für drahtlose Telegraphie System Telefunken", die sich mit dem neu entstandenen Funkwesen befasste - ein Vorläufer von Radio und Fernsehen.
Kriegswirren und Wiederaufbau
Nach den Wirren des 1. Weltkrieges erhielt Siemens den größten Auslandsauftrag eines deutschen Unternehmens seit der Jahrhundertwende: Nach mehrjähriger Bauzeit wurde 1925 ein Wasserkraftwerk fertig gestellt, dass die Stromversorgung des gesamten irischen Freistaates in Gang brachte.
Zusammen mit einem einheimischen Partnerunternehmen startete eine Siemens-Tochter 1923 die Herstellung elektrotechnischer Erzeugnisse in Japan.
Nach dem 2.Weltkrieg wurde mit Blick auf die unsichere politische Lage von Berlin im April 1949 die Umsiedlung des Firmensitzes von Siemens & Halske nach München, die des Firmensitzes der Siemens-Schuckertwerke nach Erlangen beschlossen, Berlin blieb jeweils zweiter Firmensitz.
Beispiele für den langsam wieder steigenden Exportanteil nach dem Krieg bildeten das 1956 fertiggestellte 300-Megawatt-Kraftwerk San Nicolás in Argentinien oder das Landesfernmeldenetz für Saudi-Arabien. Außerdem knüpfte man wieder Kontakte nach Japan und in die USA. Bis Mitte der 1960er Jahre gelang es dem Siemens-Konzern, seine frühere Weltmarktposition zurückzugewinnen.
Schlüsseltechnologie Digitalisierung
Ein weiterer technischer Höhepunkt der Firmengeschichte ist der Beitrag zur Digitalisierung. Diese heute fast alle Lebensbereiche beherrschende Technologie hatte ihren Ursprung in der Entwicklung der Halbleitertechnik, die bereits in den 1920er und 1930er Jahren eingesetzt hatte. Nach dem 2. Weltkrieg trieb Siemens dann die Transistortechnik voran, die Grundlage für den modernen Computer.
"Wenn wir uns an der klassischen Digitalisierung, also an der Rechnertechnik orientieren", sagt Siemens-Archivleiter Wittendorfer, "dann würde ich die Einführung und die Marktreife erster Großrechneranlagen ab den ausgehenden 1950er Jahren als den entscheidenden Zeitpunkt markieren, an dem für den Konzern eine neue Technologie-Epoche erste Höhepunkte erreichte".
Bereits 1953 entwickelten Siemens-Forscher ein neues Verfahren zur Herstellung hochreinen Siliziums und revolutionierten damit die gesamte Elektrotechnik und Elektronik. 1965 stellte das Unternehmen die erste in Europa serienmäßig gefertigte integrierte Schaltung vor, die zur Schlüsseltechnologie für weite Bereiche der modernen Technik wurde und einen enormen Innovationsschub verursachte.
Endlose Liste
Die Liste weiterer Innovationen aus dem Gesamtkonzern und der Unternehmenstöchter ist lang und kann nicht vollständig widergegeben werden. Deshalb hier nur einige Beispiele:
- 1958 wartet Siemens sogar mit einem Lebensretter auf: Der erste Herzschrittmacher wurde implantiert.
- Ab 1985 entwickelt Siemens für die Deutsche Bundesbahn die Elektrotechnik und Elektronik der Triebköpfe des neuen Zuges ICE.
- Ebenfalls 1985 wird der Aqua-Stopp für Geschirrspüler eingeführt.
- Zwischen 1984 und 1988 entstehen die ersten Telefonanlagen mit dem ISDN-Standard. Die Highcom-Anlagen gehören in vielen Unternehmen zum Alltag.
- 1990 übernimmt Siemens die Nixdorf Computer AG, einer der großen Player im noch immer jungen EDV-Markt. Einige Jahre später wird das Unternehmen allerdings wieder ausgegliedert.
Transrapid und Korruptionsskandal
Natürlich gab und gibt es auch Misstöne in der langen Unternehmensgeschichte. So floppt in den 1990er Jahren die Transrapid-Technologie von Siemens und Thyssen-Krupp gewaltig. Geplante Projekte der Magnetschwebebahn, zum Beispiel zwischen Hamburg und Berlin, werden abgebrochen, nur in Shanghai verkehrt seit 2004 ein Transrapid.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch diese Skandale: Schon 1914 erschüttert ein Siemens-Korruptionsfall Japan und löst eine politische Krise aus, weil Mitglieder der Marine für die Lieferung von Kriegsschiffen Absprachen mit dem Unternehmen getroffen haben. Im Jahr 2006 werden Mitglieder des Siemens-Vorstands verhaftet, ein Korruptionssumpf bis dahin unbekannten Ausmaßes wird aufgedeckt. Erst 2008 räumt der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer eine "politische Verantwortung" für den Skandal während seiner Amtszeit ein.
Die Aufarbeitung des Falles beschäftigt Siemens über Jahre, es geht um 330 dubiose Projekte und 4300 illegale Zahlungen, auf insgesamt rund 2,5 Milliarden Euro wird die Korruption beziffert. Dass in den Nuller-Jahren die Leitlinien zur Unternehmenskultur, sogenannte Compliance-Vorgaben eine ganz neue Bedeutung bekommen, ist nicht zuletzt diesem breit diskutierten Vorfall zu verdanken.
Und auch als der amtierende Siemens-Chef Joe Kaeser im März 2014, als der Westen gerade eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland diskutierte, überraschend im Kreml von Wladimir Putin empfangen wurde, fand das nicht überall ungeteilte Zustimmung. Kaeser verteidigte seine Visite damals mit den Worten: "Siemens und Russland verbindet eine 160-jährige Tradition. Die lange Tradition zeigt, dass wir bei Herausforderungen miteinander und nicht übereinander sprechen sollten."
"Wertschöpfungskette der Elektrifizierung"
Knapp 170 Jahre nach seiner Gründung ist Siemens ein international führendes Unternehmen, das "entlang der Wertschöpfungskette der Elektrifizierung aufgestellt ist", wie es im besten Marketing-Sprech der Firmenwebsite heißt. Weltweit beschäftigt der Konzern rund 350.000 Mitarbeiter in 190 Ländern und erwirtschaftete im Geschäftsjahr 2016 Umsatzerlöse in Höhe von fast 80 Milliarden Euro sowie einen Gewinn nach Steuern von 5,6 Milliarden Euro.