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Sind Krebszellen nachts aktiv?

Gudrun Heise
28. Juni 2022

Metastasen sind meist gefährlicher als der primäre Tumor. Laut einer Schweizer Studie verhalten sich diese Krebszellen je nach Tageszeit unterschiedlich. Aber es gibt noch viele Unklarheiten.

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Eine Krebs Metastase
Metastasen: Die "tödlichen Töchter" des KrebsBild: Spectra/imago images/Shotshop

In den menschlichen Schlafphasen sind Tumorzellen am aktivsten. Zu diesem Ergebnis sind Forschende an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, der ETH, gelangt. 30 Brustkrebspatientinnen wurden für die Studie, die im Fachmagazin "Nature" erschienen ist, beobachtet. Zusätzlich wurden Untersuchungen an Mäusen durchgeführt. Die Studie war relativ klein angelegt, kommt aber nach Ansicht der Forschenden trotzdem zu Ergebnissen, die durchaus Auswirkungen auf die Diagnose und Behandlung von Brustkrebs haben könnten. 

Metastasen: Die größte Gefahr bei Krebs

Brustkrebs ist eine der häufigsten Krebsformen. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkranken jedes Jahr weltweit etwa 2,3 Millionen Frauen daran. Früh genug erkannt sind die Heilungschancen groß. Schwierig wird es, wenn sich Metastasen gebildet haben. Die WHO schätzt, dass die sogenannten "tödlichen Töchter" bei 90 Prozent aller Krebserkrankungen zum Tod führen. Entsprechend wichtig ist die Forschung zu Metastasen, warum und wie sie entstehen und - Ergebnissen der Schweizer Studie zufolge - eben auch wann. 

Wie Krebs das Leben verändert

Eher ein Zufallsfund?

Die Annahme, dass Metastasen bei Brustkrebs nachts sehr aktiv sind, ist dem Umstand zu verdanken, dass Mitarbeitende des molekularbiologischen Labors der ETH verschiedene Arbeitszeiten haben und deshalb Blutproben zu verschiedenen Zeiten bei den Patientinnen abgenommen und untersucht haben. Das Team machte dabei die Erfahrung, dass die Zahl der Tumorzellen, die im Blut zirkulieren (CTC – Circulating tumor cells) nachts wesentlich höher war als am Tag. 

Nadia Harbeck, Leiterin des Brustzentrums und der onkologischen Tagesklinik der Frauenklinik am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) sieht ein praktisches Problem mit den Ergebnissen der Studie. "Dies ist eine sehr interessante Grundlagenarbeit, bei der es sich lohnt, weiter nachzuforschen beziehungsweise vor allem die klinische Bedeutung weiter herauszuarbeiten", so Harbeck. "Denn sollte sich bestätigen, dass sich bestimmte Tumorzellen vor allem nachts, wenn wir schlafen, bilden, wäre das ja mit Blick auf die Behandlung im klinischen Alltag erst einmal schwierig." Schließlich kommen Patientinnen nicht nachts zur Behandlung und zur Blutabnahme, sondern am Tag. 

Die Schweizer Forschenden haben beobachtet, dass sich nachts mehr Zellen oder ganze Zellklumpen vom eigentlichen Tumor gelöst haben, um sich dann über das Blut im Körper zu verteilen. Wenn es sich bestätigt, dass bestimmte zirkulierende Krebszellen tatsächlich einen zirkadianen Rhythmus durchlaufen, also einen biologischen Rhythmus haben, der bestimmt, wie aggressiv die Krebszellen sind, kann das ein Indikator sein sowohl für die Diagnose als auch für eine mögliche Therapie. 

"Man könnte sich zum Beispiel fragen, ob Blutabnahmen für CTCs bei unseren Krebspatienten nicht grundsätzlich frühmorgens erfolgen müssten", so Harbeck. "Bisher gibt es hierzu keine einheitliche Regelung. Noch interessanter wäre es aber zu wissen, welche Wachstumsfaktoren genau die Dynamik der CTCs bestimmen. Denn den Patienten zu raten, nicht mehr zu schlafen, ist ja unrealistisch. Mich würde da schon im Detail interessieren, welcher Mechanismus während unseres Schlafs dafür sorgt, dass die CTCs aggressiver werden. Die Beantwortung dieser Frage hätte dann eine große Bedeutung für die Krebstherapie."

Ist die Uhrzeit wirklich entscheidend?

Die Erkenntnisse scheinen zunächst eher zufällig. Deshalb wurden am Universitätsklinikum Basel ebenfalls Brustkrebspatientinnen untersucht. Dabei erfolgten die Blutentnahmen zu unterschiedlichen Tageszeiten: um zehn Uhr vormittags und um vier Uhr nachts. Die Studie bestätigte die Beobachtungen der Forschenden aus Zürich: In den Proben aus der Nacht fanden sich erheblich mehr Krebszellen, die frei im Blut zirkulierten. Es waren 80 Prozent mehr, also fast doppelt so viele.

Illustration: Teilung einer Krebszelle
Je häufiger Krebszellen sich teilen, umso gefährlicher wird die KrankheitBild: Imago Images/Science Photo Library

Tanja Fehm, Direktorin der Frauenklinik, Universitätsklinikum Düsseldorf, steht der Studie und den entsprechenden Ergebnissen allerdings eher kritisch gegenüber. "Aufgrund der Tatsache, dass im Körper viele Zellen und deren Aktivitäten - zum Beispiel Immunzellen - einem zirkadianen Rhythmus unterliegen, können wir schon davon ausgehen, dass es Tageszeitunterschiede und kurzfristige Schwankungen auch in der CTC-Anzahl gibt. Das legt nahe, dass Metastasierung durch den zirkadianen Rhythmus reguliert werden könnte." 

Aber, so Fehm weiter, insgesamt müsse dieses Phänomen und damit auch die Ergebnisse der Schweizer Erkenntnisse in einer größeren Kohorte von Patienten in einer multizentrischen Studie mit unabhängigen Personen bestätigt werden. "Erst dann wird man absehen können, ob sich dies auf zukünftige Behandlungsmethoden auswirken wird."

Ein weiterer kritischer Aspekt sei, dass eine nicht-standardisierte Methode beim Feststellen der im Blut zirkulierenden Tumorzellen angewendet wurde. "Somit ist schwer zu beurteilen, inwiefern es sich [im Falle der] Brustkrebs-Patientinnen tatsächlich um Tumorzellen und nicht etwa um falsch-positive weiße Blutzellen gehandelt hat, welche auch zirkadianen Rhythmen unterliegen", so Fehm weiter. 

Frau untersucht ihre Brust
Brustkrebs metastasiert häufig in die Knochen und in die Lymphknoten. Das Abtasten der eigenen Brust kann helfen, die Krankheit frühestmöglich zu entdecken. Bild: Bo Valentino/Zoonar/picture alliance

Entgegengesetzte Ergebnisse im Mausmodell

Die Versuche, die die Forschenden zusätzlich an Labormäusen durchführten, kamen zum entgegengesetzten Ergebnis. Hier lag die Zahl der metastasierenden Krebszellen tagsüber wesentlich höher als bei Proben, die nachts genommen und untersucht worden waren. Einigen Mäusen waren zuvor Zellen von Brustkrebspatientinnen eingepflanzt worden. Andere hatten die Krebsform selbständig entwickelt.

Bei den untersuchten Mäusen fanden die Forschenden am Tag 90 Mal mehr metastasierende Krebszellen gab als nachts. Mäuse sind nachtaktiv, schlafen also tagsüber. Diese Resultate legten nahe, dass Hormone eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Mestastasen spielen. So ist das Hormon Melatonin für unseren Schlafrhythmus verantwortlich. 

"Die In-vivo-Untersuchungen in den Mausmodellen werfen spannende Fragen auf, deren Relevanz in Patienten in weiterführenden Studien zu untersuchen sein wird", sagt Fehm. 

Bisher stand die Tageszeit bei der Blutentnahme und der Blutanalyse kaum im Mittelpunkt. Das könnte sich in Zukunft ändern. Noch aber sind für valide Ergebnisse weitere und großangelegte Studien erforderlich, um der Aktivität von Krebszellen bei der Bildung der "tödlichen Töchter" auf die Spur zu kommen.