SIPRI: Wegen Ukraine-Krieg rüstet Europa massiv auf
13. März 2023Die Welt insgesamt rüstet ab, Europa rüstet auf, und zwar drastisch. Auf diese Formel kann man die Ergebnisse des jüngsten SIPRI-Berichts bringen. SIPRI steht für "Stockholm International Peace Research Institute". Das schwedische Friedensforschungsinstitut untersucht und vergleicht den weltweiten Waffenhandel und versorgt Öffentlichkeit wie Experten mit Analysedaten zu militärischen Fragen.
Zu den beiden wichtigsten Trends im aktuellen Bericht zählt SIPRI-Forscher Pieter Wezeman im Gespräch mit der Deutschen Welle, "dass der Waffentransfer in europäische Staaten deutlich gestiegen ist" und dass "die Rolle der USA als weltweiter Waffenlieferant ebenso deutlich zugenommen hat".
Im jüngsten untersuchten Zeitraum von 2018 bis 2022 ging der internationale Waffentransfer um gut fünf Prozent gegenüber dem Zeitraum 2013 bis 2017 zurück. Die Rüstungsimporte europäischer Länder – bezogen überwiegend aus den USA - nahmen dagegen um 47 Prozent zu, diejenigen europäischer NATO-Staaten sogar um 65 Prozent. Der Grund ist, wenig überraschend, der Ukraine-Krieg.
Empfängerland Ukraine jetzt weltweit Nummer drei
Die Ukraine selbst spielte früher als Empfänger und Käufer von Waffen praktisch keine Rolle. Auch deshalb, weil die frühere Sowjetrepublik selbst Waffen herstellt und viele Waffen noch aus der Zeit der Sowjetunion stammen, der Importbedarf also gering war. Im Zeitraum 2018 bis 2022 steht die Ukraine aber an 14. Stelle, und betrachtet man allein das Jahr 2022, sogar an weltweit dritter Stelle als Empfängerland für Rüstungsgüter.
Das SIPRI spricht in seinem Bericht normalerweise von "Waffentransfers" und meint damit sowohl Waffenhandel als auch (kostenlose) Militärhilfe, die bei der Ukraine-Unterstützung im Vordergrund steht. Dabei handelt es sich meist nicht um die allerneuesten Entwicklungen, oft auch um Waffen aus den Beständen der Geberländer.
Der Verkaufswert der Rüstungsgüter für die Ukraine ist entsprechend eher gering, wie ihn das SIPRI berechnet hat: So erreichte der Wert der umfangreichen US-Waffenlieferungen an die Ukraine im Kriegsjahr 2022 nicht das Niveau der US-Lieferungen an vier andere Empfängerländer – Kuweit, Saudi-Arabien, Katar und Japan –, weil diese Länder besonders hochentwickelte und neue Systeme wie Kampfflugzeuge bekamen. Kampfflugzeuge fordert Kiew nach wie vor dringend an, bekommt sie von westlichen Ländern bislang aber nicht.
Frankreichs Rüstungsexportpolitik zahlt sich aus
Die fünf wichtigsten Rüstungsexportländer der Welt sind – in dieser Reihenfolge – die USA, Russland, Frankreich, China und Deutschland. An der Reihenfolge hat sich im Vergleich zum vorherigen Zeitraum nichts geändert, erhebliche Veränderungen gab es aber bei einzelnen Ländern. So legten die USA, ohnehin die Nummer eins, noch einmal um 14 Prozent zu und stehen inzwischen für 40 Prozent des globalen Waffentransfers.
Ein noch viel stärkeres Plus von 44 Prozent verzeichnet Frankreich, das seine Position als Nummer drei ausbauen konnte. Zwar sind solche starken Veränderungen laut SIPRI nicht ungewöhnlich, weil manchmal besonders lukrative Großaufträge nur in einen bestimmten Zeitraum fallen. So erklärt Pieter Wezeman auch den starken Einbruch von 35 Prozent im Rüstungsgeschäft Deutschlands. Aber, so Wezeman: "Die Veränderung beim Waffenexport Frankreichs ist wohl eher struktureller Natur. Frankreich fördert seine Rüstungsindustrie sehr stark und hatte im vergangenen Jahrzehnt großen Erfolg damit."
Bedeutung Chinas als globaler Waffenexporteur sinkt
Das bekam auch Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem kürzlichen Indien-Besuch zu spüren, bei dem es auch darum ging, die indische Rüstungsabhängigkeit von Russland zu verringern: Während sich Frankreich dort seit Jahren als zweitwichtigster Lieferant nach Russland etabliert hat, spielt Deutschland in Indien auf diesem Gebiet keine große Rolle.
Auffällig sind auch die Verluste chinesischer Rüstungsexporte von 23 Prozent und generell die im Vergleich zur Gesamtwirtschaft geringe Bedeutung Chinas als globaler Waffenexporteur. Pieter Wezeman erklärt das so: "China ist es nicht gelungen, in einige der wichtigsten Rüstungsmärkte einzudringen, in manchen Fällen aus klar politischen Gründen." Daher verkaufe China zum Beispiel keine Waffen an seinen Rivalen Indien. "Überraschenderweise hat es China aber auch nicht geschafft, in den meisten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens gegen seine Wettbewerber aus den USA und Europa anzukommen."
Weniger Waffen nach Afrika bedeuten nicht mehr Frieden
Die stark gestiegenen Waffenimporte europäischer Staaten haben dazu geführt, dass der Anteil Europas an internationalen Waffentransfers deutlich gestiegen ist, von elf Prozent im Zeitraum 2013 bis 2017 auf 16 Prozent in den Jahren 2018 bis 2022. In allen anderen Weltregionen gingen die Rüstungstransfers dagegen zurück.
Extrem, nämlich um ein Minus von 40 Prozent, war das in Afrika der Fall. "Das macht Afrika aber nicht friedlicher", sagt Wezeman. Die SIPRI-Zahlen stünden "nicht in direkter Korrelation zu den Konflikten, in denen diese Waffen eingesetzt werden". In Afrika gebe es zwar zahlreiche bewaffnete Konflikte. "Doch die Länder können sich keine große Zahl hochentwickelter Waffen leisten, daher ist der Wert der gesamten Waffentransfers in die Region nicht so hoch, wie die Zahl der Konflikte vermuten lassen könnte."
Russland steigert seinen Einfluss in Mali
Zumindest in Subsahara-Afrika hat Russland inzwischen China als Waffenlieferant überholt. Ein Beispiel für das Vorstoßen Russlands in Afrika ist Mali. Mali bezog früher Rüstungsgüter aus einer ganzen Reihe von Ländern, darunter aus Frankreich und den USA. Nach den Putschen in Mali 2020 und 2021 hielten sich diese beiden westlichen Länder aber deutlich zurück, während Russland seine Verkäufe nach Mali ausgeweitet hat.
Ein anderes Beispiel für die Folgen politischer Verstimmungen für die Rüstungszusammenarbeit ist die Türkei: Das NATO-Land war von 2013 bis 2017 der siebtwichtigste Abnehmer US-amerikanischer Rüstungsgüter. Seit den Konflikten der Türkei unter Präsident Recep Erdogan mit Washington steht die Türkei im Zeitraum von 2018 bis 2022 nur noch an 27. Stelle.
Auftragsbücher als Prognose
Wer hat in Zukunft die Nase im internationalen Waffengeschäft vorn? Dazu hat sich das SIPRI die Auftragsbücher von Herstellern der wichtigsten Waffenexportländer angesehen. Besonders berücksichtigt werden dabei Aufträge von Kampfflugzeugen und -hubschraubern sowie von größeren Kriegsschiffen wie Flugzeugträgern, Zerstörern, Fregatten und U-Booten. Das sind Waffensysteme mit einem besonders hohen Auftragswert.
Die USA werden demnach der mit Abstand wichtigste Waffenlieferant bleiben. Das ergibt sich schon allein aus der Tatsache, dass rund 60 Prozent aller weltweit georderten Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber US-Produktionen sind. Allein im Jahr 2022 haben 13 Staaten bei US-amerikanischen Herstellern insgesamt 376 Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber bestellt.
Frankreich hat sowohl viele Flugzeug- als auch Schiffsbestellungen und dürfte seine Position als Waffenexporteur damit weiter steigern. Deutschland indes besitzt eine gemischte Auftragslage: kein einziges Flugzeug und keinen Hubschrauber, aber bei deutschen Werften sind eine ganze Reihe von Wasserfahrzeugen bestellt. Und Russland, der weltweit zweitwichtigste Hersteller, hat im Moment generell relativ wenige Bestellungen in den Büchern. Viele Waffen, die sonst vielleicht in den Export gegangen wären, werden im Ukraine-Krieg gebraucht.