Niemandsland auf Zypern
20. September 2012Vom Dorfplatz in Pyla aus sieht man das Minarett der Moschee und den Kirchturm einer christlichen Kirche. Eine griechische Taverne, ein türkisch anmutendes Kaffeehaus und eine Art britisches Pub haben ihre Terrassen zum kleinen Platz hin geöffnet. Ältere Männer trinken Kaffee und blinzeln in die Mittagssonne. Alles scheint ganz normal in diesem winzigen Dorf auf Zypern. Wenn da nicht der weiß-blau gestrichene Beobachtungsposten der Vereinten Nationen auf einem Hausdach über dem Platz wäre. "Posten 129" steht in blauen Lettern auf der weißen Wand.
Oben auf dem Hügel über Pyla, nur rund 200 Meter Luftlinie entfernt, wehen rote Flaggen mit dem weißen türkischen Halbmond im Wind. Dort schieben türkisch-zyprische Soldaten Wache und beobachten das Dorf Pyla zu ihren Füßen. Um die Mittagszeit winkt der türkische Posten vom Hügel den UN-Soldaten im Tal zu, als wollte er sagen: "Jetzt ist Pause." Die Stimmung ist zurzeit recht entspannt in Pyla, bestätigt Hauptmann Michal Harnadek von der UN-Friedenstruppe. "Wir beobachten nicht nur die gegnerischen Truppen, sondern wir schauen uns auch die Lage in dem Dorf an", sagt Michal Harnadek. Denn die Stimmung unter den Einwohnern könne manchmal schnell umschlagen.
Ruhe im Niemandsland
Pyla liegt in der Pufferzone der UN, im Niemandsland zwischen den Waffenstillstandslinien, die nach der türkischen Militärintervention 1974 gezogen wurden. Die Vereinten Nationen überwachen seit August 1974 das Gebiet zwischen den Stellungen der griechischen Zyprer im Süden und der türkischen Truppen im Norden der Insel. Pyla ist eines von wenigen Dörfern, in denen griechische und türkische Zyprer heute noch zusammenleben. Und auch Briten leben in Pyla. Zypern war bis zur Unabhängigkeit 1960 britisches Mandatsgebiet. Heute grenzt ein britischer Militärstützpunkt fast unmittelbar an Pyla.
In der Pufferzone ist es insgesamt ruhig, sagt Blauhelm Michal Harnadek. Ernsthafte Zwischenfälle gab es seit den 1980er Jahren zwischen griechischen und türkischen Truppen nicht mehr. "Wir haben ein ganz gutes System von Verbindungsoffizieren zwischen den gegnerischen Truppen und den Vereinten Nationen. Alle Probleme werden auf einer möglichst niedrigen Ebene gelöst", erzählt der UN-Soldat, der aus der Slowakei stammt. "Das ist wirklich erstaunlich, dass man die Spannungen auf der Ebene der lokalen Kommandanten abbauen kann, ohne dass man gleich Alarm auf höchster Ebene schlagen muss. Das ist das Besondere an dieser Mission", erzählt Harnadek.
Heute geht es eher darum, illegales Bauen in der Pufferzone zu verhindern und Wilderer abzuschrecken. Denn gebaut werden darf in der Pufferzone nicht. Der Status quo von 1974 soll gewahrt bleiben. Die Kassiererin im kleinen Supermarkt von Pyla sieht die Lage gelassen. "Alle verstehen sich und Einkaufen müssen sie auch alle", sagt sie grinsend.
Aussicht auf die Geisterstadt
Ganz im Osten von Zypern, wo die Pufferzone an die Küste stößt, liegt das einstige Seebad Famagusta. Die Stadt ist türkisch-besetzt. Südlich von Famagusta, im griechischen Teil, hat sich die Familie von Annita ein vierstöckiges Haus direkt an den Militärposten gebaut. Auf der Dachterrasse stehen Touristen mit Ferngläsern und schauen auf die Geisterstadt Famagusta.
Die Szene erinnert an die Beobachtungsplattformen an der früheren innerdeutschen Grenze. Man schaut nach "drüben", allerdings gibt es keinen Todesstreifen oder gar Selbstschussanlagen, nur Stacheldraht und vereinzelt Minen. Zu sehen sind von "Annitas Viewpoint" leere Hochhäuser mit schwarzen Fensterhöhlen direkt am Strand. Die einstigen Luxushotels und Apartmenthäuser sind seit 38 Jahren ungenutzt. Das türkische Militär verweigert den Zugang, erklärt UN-Offizier Michal Harnadek. "Es verhindert, dass die ursprünglichen Besitzer zurückkehren. Sie benutzen das als Unterpfand im politischen Prozess", so Harnadek.
Politik bewegt sich nicht
Der politische Prozess, also der Versuch, das türkisch-besetzte Nordzypern wieder mit der Republik Zypern im Süden zu vereinigen, steht still. 2004 kurz vor dem Beitritt Zyperns zur Europäischen Union, lehnten die griechischen Zyprer einen UN-Plan mit großer Mehrheit ab. Seitdem bewegt sich nur wenig, sagt der Sprecher der UN-Mission auf Zypern, Michel Bonnardeux. "Der Zypern-Konflikt ist so sehr in die politische Kultur eingebettet, dass er jetzt auf beiden Seiten schon Teil der Innenpolitik ist. Wenn Sie Spannungen spüren, finden Sie die meistens auf der politischen Ebene, nicht so sehr bei den Menschen." Seit 2008 ist die Demarktionslinie zwischen Norden und Süden durchlässig. Es herrscht mehr oder weniger Reisefreiheit in beide Richtungen.
"Berliner Mauer Nummer 2"
Damals wurde auch die Ledra-Straße in der Altstadt der Hauptstadt Nikosia wieder geöffnet. Fußgänger können seither rund um die Uhr von hüben nach drüben. Die Pufferzone verläuft mitten durch die Altstadt, ist aber nur wenige Meter breit. Für einen Deutschen, der die Berliner Mauer noch vor Augen hat, wirken die Absperrungen in den Straßen sehr provisorisch. Holzbuden, alte Ölfässer, niedrige Betonmauern, hier und da etwas Stacheldraht. An einigen Stellen bewachen UN-Posten die Demarkationslinie.
Direkt neben einem blau-weiß gestrichenen Wachhäuschen der UN hat ein pfiffiger Wirt einen Imbiss aufgemacht. Weiße Plastiktische und Plastikstühle ein paar Blumenkübel, ein Dach aus Wellblech. Von dem baumelt das große Holzschild mit dem Namen des Imbiss: Berliner Mauer Nummer 2. Auf der türkischen Nordseite der Ledra-Straße kommt man in eine Art Basar, wo Schmuck und Kleidung zu viel günstigeren Preisen als im Süden verkauft werden. Pragmatisch akzeptieren die Basarhändler im Norden den Euro als Zahlungsmittel, der eigentlich nur im Süden gilt.
Ende der UN-Mission nicht in Sicht
Viele türkische Zyprer arbeiten im Süden Nikosias, im Norden sieht man Autos aus dem Süden. Die wirtschaftlichen Verflechtungen sind inzwischen vielfältig, sagt Michal Bonnardeux von der UN-Mission. Die 860 Blauhelme und einige Dutzend zivile Mitarbeiter sollen im Auftrag der Vereinten Nationen den militärischen Status quo von 1974 sichern, aber gleichzeitig auch für eine Normalisierung der Lebensverhältnisse sorgen. Deshalb können Landwirte in der Pufferzone auch wieder ihre Felder bestellen. Der Golfclub von Nikosia hat im Niemandsland einen Golfplatz eröffnet.
Die Vereinten Nationen haben ihr Hauptquartier auf dem Gelände des alten Flughafens von Nikosia mitten im Niemandsland westlich der Hauptstadt. Tower und Abfertigungsgebäude sind seit fast vierzig Jahren ungenutzt. Auf dem Rollfeld rosten Flugzeugleichen vor sich hin. Noch eine Geisterstadt, gefangen in der Zeit.
Gefangen in der Zeit fühlt sich auch UN-Sprecher Michel Bonnardeux. Bereits seit 1964 sind die UN auf Zypern vertreten, 1974 entstand nach der faktischen Teilung der Insel die Pufferzone. Damals waren 14.000 Soldaten hier stationiert, jetzt sind es nicht einmal mehr 1000 Mitarbeiter. Nach 38 Jahren wäre es Zeit für eine Lösung des Konflikts, findet Michel Bonnardeux. "Man sollte hoffen, dass wir eines Tages zusammenpacken und dann ein vereinigtes Zypern verlassen können. Das ist der Auftrag des UN-Sicherheitsrates."