Sorge um fairen Prozess
5. Januar 2015Massachusetts gilt als liberale Bastion in den Vereinigten Staaten. 1947 wurden in dem US-Bundesstaat zum letzten Mal Mörder hingerichtet: Phillip Bellino und Edward Gertson starben qualvoll auf dem elektrischen Stuhl. Mehrfach hat Massachusetts Versuche von Hinrichtungs-Befürwortern abgewehrt, die Todesstrafe im Nordosten der USA wieder einzuführen. Dementsprechend umstritten ist die Entscheidung des US-Justizministeriums in Washington, den mutmaßlichen Attentäter Dschochar Zarnajew in einem Bundesverfahren anzuklagen, bei dem ihm die Todesstrafe droht.
Ihm wird vorgeworfen, gemeinsam mit seinem auf der Flucht getöteten Bruder, den Bombenanschlag auf den Boston-Marathon verübt zu haben. Dabei waren am 15. April 2013 drei Menschen getötet und rund 260 weitere verletzt worden. Nur wenige Monate nach dem Anschlag ging die führende Zeitung der Region, der Boston Globe, in einem Leitartikel auf Distanz zu einer möglichen Hinrichtung von Dschochar Zarnajew. Die Zeitung zitierte eine Umfrage, der zufolge gut 57 Prozent der Bostoner im Falle einer Verurteilung für Zarnajew eine Haftstrafe ohne Bewährung fordern - aber lediglich 33 Prozent die Todesstrafe.
Rechtsprofessor Michael Avery von der Suffolk University in Boston ärgert sich über die Entscheidung der Regierung in Washington, sich über die öffentliche Meinung hinwegzusetzen: "Das ist respektlos", so Avery im DW-Interview. Auch die ehemalige Richterin Nancy Gertner, die heute als Juraprofessorin in Harvard lehrt, sieht bei derartigen Entscheidungen das US-Justizministerium in der Pflicht, die öffentliche Meinung zu berücksichtigen. Aber sie weist auch auf Besonderheiten des Falls hin: "Es handelt sich hier um eine Angelegenheit der nationalen Strafverfolgungsbehörden. Und die Zahlen in Boston sind mit den Werten in anderen Regionen nicht vergleichbar - dort würden Umfragen andere Ergebnisse bringen."
Juraprofessor Jeffrey Addicott hat keine Zweifel, dass die Strafverfolger die Todesstrafe in diesem Fall zu Recht erwägen. "Gerechtigkeit heißt, den Tätern das zu geben, was sie verdienen", sagt Addicott, der das Zentrum für Terrorismusrecht an der St. Mary's University in San Antonio, Texas, leitet. "Dieser Angeklagte verdient die Todesstrafe. Es war ein schreckliches Attentat, ein Angriff auf Zivilisten. Es ist ein hochkarätiger Fall, der nach einer ebenso aufsehenerregenden Antwort verlangt."
Der Tod als Abschreckung?
Auch Michael Avery sieht in dem Bombenanschlag ein schreckliches Verbrechen: "Es ist schwer, sich etwas als viel Schlimmeres vorstellen." Und doch glaubt der Bostoner Jurist, dass die Androhung der Todesstrafe mehr damit zu tun hat, Härte zu zeigen, als für Gerechtigkeit zu sorgen. Es gehe darum, Politiker und Staatsanwälte als Leute darzustellen, die uns schützten. Aber dieses Vorgehen biete keinen Schutz: "Glaubt wirklich jemand, dass sich künftige Terroristen durch die Todesstrafe von Anschlägen abhalten lassen? Nein!"
Sein texanischer Kollege Jeffrey Addicott widerspricht. "Anwendung von Gewalt schrecken radikale Islamisten ab. Auf der einen Seite wollen sie für den Dschihad sterben, auf der anderen verstehen sie die Sprache der Gewalt und respektieren sie." Nach Addicotts Einschätzung respektieren Islamisten niemanden, der wankelmütig, beschwichtigend oder zu Verhandlungen bereit ist.
Experten gehen davon aus, dass der Prozess gegen Dschochar Zarnajew langwierig werden kann. Jeffrey Addicott sieht darin etwas Gutes: Die detaillierte Beschäftigung mit dem Thema Islamismus während des Prozesses könne auch eine positive Wirkung haben, zumal die Gefahr des Islamismus aus seiner Sicht von der Obama-Regierung unterschätzt werde. "Der Prozess wird ein gutes Lehrstück, damit die Leute sehen, wer diese Monster sind und was sie motiviert.“
Auf dem Weg zu einem Deal?
Harvard-Professorin Nancy Gertner hingegen würde den Prozess lieber abkürzen: Anklage und Verteidigung könnten sich auf einen Deal einlassen. Zarnajew bekennt sich schuldig und erhält dafür eine lebenslängliche Haftstrafe ohne Bewährung. Eine solche Vereinbarung, so die frühere Richterin, würde nicht nur zum gleichen Ergebnis kommen, sondern sogar den ganzen Prozess vermeiden. "Das wäre dann eine Anhörung, in der die Anklage die erdrückenden Beweise vortragen könnte. Dann gäbe es noch eine Strafanhörung vor dem Richter, in der auch die Zeugen aussagen würden. Und wenn die beendet ist und 'Lebenslänglich ohne Bewährung' beschlossen würde, wäre das Verfahren beendet."
Auch Rechtsprofessor Michael Avery wünscht sich einen Deal. "Wir können sicher sein: Wenn die Todesstrafe vom Tisch käme, würde der Angeklagte auf 'schuldig' plädieren. Die Beweise sind erdrückend und Tsarnaev hätte - wenn ihm keine Todesstrafe mehr droht - durch ein Verfahren nichts zu gewinnen. Fordert die Regierung weiterhin den Tod des Angeklagten, muss Tsarnaev allerdings durch das ganze langwierige Verfahren."
Kommt es nun nicht zu einem Deal zwischen Anklage und Verteidigung in letzter Minute, beginnt der Prozess am Montag mit der Auswahl der Geschworenen. Aber auch dieser Schritt wirft schwierige rechtliche Fragen auf: Ist es angesichts der ausufernden Berichterstattung überhaupt möglich, eine unvoreingenommene Jury zusammenzustellen? "Ein sorgfältiges Auswahlverfahren", fordert Experte Addicott. Doch Zweifel bleiben, ob dies möglich ist. Kein Wunder also, dass die Verteidigung den Prozess gerne in eine andere Region verlegen würde. Vorbild könnte der Prozess gegen den Oklahoma-Bomber sein, der in Denver geführt wurde.
Allerdings winkte der zuständige Richter George O'Toole bislang ab - und sorgte damit für eine weitere kontroverse Debatte im Vorfeld des Prozesses. Die Zweifel am Boston-Prozess bleiben erst einmal - bis auf Weiteres.