Soziale Marktwirtschaft war gestern
26. Januar 2022Im Bundeswirtschaftsministerium beginnt das Jahr mit dem Jahreswirtschaftsbericht. Das war schon immer so. Die Regierung erklärt, welche Wirtschafts- und Finanzpolitik zu erwarten ist und wie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland beurteilt wird. Bislang waren diese Berichte vor allem darauf ausgerichtet, wie stark die Wirtschaft wächst, wie viel Arbeit es gibt und welche Hindernisse einem noch stärkeren Wachstum im Wege stehen könnten.
Doch damit soll nun Schluss sein. Nicht mit dem Wachstum an und für sich, denn "auf die Idee von Wachstum zu verzichten würde bedeuten, wir verzichten auf die Idee von Fortschritt", betont der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts 2022 in Berlin. Es dürfe aber kein "immer weiter so" mehr geben. Umwelt- und Klimaschutz sollen einen zentralen Stellenwert erhalten. "Unsere Wirtschaftsordnung muss die Interessen künftiger Generationen und den Schutz globaler Umweltgüter systematischer und deutlich verlässlicher berücksichtigen", so Habeck. "Diesem nachhaltigen Ansatz mehr Konsequenz zu verleihen erfordert, die soziale Marktwirtschaft zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln."
Jahrhundertaufgabe: Klimaneutral in 25 Jahren
Entsprechend lautet auch der Titel des Jahreswirtschaftsberichts 2022: "Für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft - Transformation innovativ gestalten." Das Papier sei "ein starker und innovativer Aufschlag für die kommenden vier Jahre", betont Habeck bei der Vorstellung des Berichts (Artikelbild). Deutschland stehe vor einer Jahrhundertaufgabe. "In weniger als 25 Jahren wollen wir klimaneutral leben." Um das zu erreichen, sollen die erneuerbaren Energien so ausgebaut werden, dass sie in spätestens acht Jahren 80 Prozent des Gesamtstrombedarfs decken.
"Diese Ziele sind notwendig, um auch künftig noch ein Leben in Freiheit und Wohlstand zu ermöglichen", erklärt der Grünen-Politiker. "Ohne den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Berücksichtigung der planetaren Grenzen entziehen wir uns selbst langfristig unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Basis." Was der Minister sagt, könnte man auch so ausdrücken: Würde Deutschland so weiter wirtschaften wie bisher, würde das mit Blick auf die Klimaschäden am Ende viel mehr kosten, als wenn man die Wirtschaft jetzt umstellt.
Was zunächst aber auch enorm teuer wird. Das seien aber Investitionen in die Zukunft, die sich langfristig rentieren würden, sagt Habeck. Die Wirtschaft sei in weiten Teilen gut vorbereitet, viele Unternehmen hätten sich in den letzten Jahren auf den Weg gemacht. "Als Bundesregierung sehen wir unsere Aufgabe darin, die Transformation hin zu Klimaneutralität durch eine verstärkte Förderung von Alternativen, etwa von Wasserstofftechnologien, Elektromobilität, CO2-armen Gebäude- und Heiztechniken, und durch den Ausbau des Schienenverkehrs zu beschleunigen und zu unterstützen."
Die fossile Abhängigkeit
Noch ist Deutschland allerdings abhängig von fossilen Energien wie Kohle und Gas. Die Preise dafür steigen immer weiter und auch der Strompreis kennt nur eine Richtung: Aufwärts. Das liegt auch an der Gesetzgebung, die die neue Bundesregierung ändern will. Eine bisher erhobene Umlage, mit der Stromkunden bisher die Umstellung auf erneuerbare Energien mitfinanzieren, soll für Privathaushalte, aber auch für kleinere und mittlere Unternehmen abgeschafft werden. Offiziell zum 1. Januar 2023, Habeck würde es gerne schon früher machen. Strom müsse günstig und verlässlich zur Verfügung stehen, sagt er.
Auf diese Weise soll die Nutzung von Strom attraktiver gemacht und der Einsatz von Kohle und Gas zurückgedrängt werden. Doch was bedeutet das für Wirtschaftszweige und Regionen, die von diesen Geschäftsfeldern leben? Sie würden bei der Transformation, beim Strukturwandel unterstützt, verspricht der Bundeswirtschaftsminister.
40 Milliarden Euro stellt allein der Bund dafür zur Verfügung. Die entsprechenden Förderprogramme seien bereits aufgelegt, allerdings müssten eventuell aber beschleunigt werden, falls der Kohleausstieg tatsächlich früher umgesetzt werden könnte. "Wir müssen darauf achten, dass dort aber auch Arbeitsplätze für Menschen entstehen, die mit den Händen arbeiten", so Habeck. "Es ist ja gut und gewollt, dass da Behörden und akademische Forschungseinrichtungen entstehen sollen, aber wir müssen darauf achten, dass sich auch industrielle Wertschöpfung in diesen Regionen hält", sagte Habeck im Bundestag.
Die enormen Kosten der Transformation kann Deutschland allerdings nur stemmen, wenn die Steuereinnahmen stabil bleiben. Dafür muss die Mehrheit der Unternehmen weiter gute Geschäfte machen. In der Corona-Pandemie ist das nicht selbstverständlich. Die Infektionszahlen steigen jeden Tag, es gibt Einschränkungen, viele Menschen sind krank und können nicht arbeiten. Das schlägt sich in der Konjunktur nieder.
Wachstumsprognose reduziert
"Die wirtschaftliche Entwicklung ist gedämpft, aber gedämpft optimistisch", so der Wirtschaftsminister, der die Herbstprognose der alten Bundesregierung, die für 2022 ein Wachstum von 4,1 Prozent voraussah, auf 3,6 Prozent korrigiert. "Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Wirtschaft insgesamt sehr robust dasteht." In der Industrie seien die Auftragsbücher voll, die Exporte würden in diesem Jahr um 6,3 Prozent wachsen.
Im Dienstleistungssektor hingegen gebe es pandemiebedingt Probleme. Viele Unternehmen haben dort erneut Kurzarbeit angemeldet, das heißt, ihre Mitarbeiter sind wegen fehlender Arbeit freigestellt und erhalten staatliche Unterstützung. Das verhindert, dass Mitarbeiter entlassen werden müssen. Wenn es wieder Arbeit gibt, können sie sofort an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.
Für die Unternehmen wird es zunehmend wichtiger, Arbeitskräfte an sich zu binden, denn der Fachkräftemangel wird immer größer. Die neue Bundesregierung will eine Aus- und Weiterbildungsoffensive starten und den Zuzug von ausländischen Fachkräften erleichtern. "Wir müssen aufpassen, dass wir 2023 nicht ein Auseinanderfallen von Produktionsmöglichkeiten auf der einen Seite und Kapital und Arbeit auf der anderen Seite haben."
Wohlstand neu definieren
Neu ist auch die Ankündigung im Jahreswirtschaftsbericht, dass Wachstum in Zukunft nicht mehr ohne die Berücksichtigung des Ressourcenverbrauchs betrachtet werden soll. Was für die Produktion bereitstehe, sei ein knappes Gut und müsse vorrangig für Investitionen in den Klimaschutz bereitstehen und nicht für eine Ausweitung des Konsumgüterangebots. Habeck will die Negativeffekte des Wirtschaftens stärker in den Blick nehmen. "Wir dürfen kein Wirtschaften mehr fördern, das zu fossilem Energieverbrauch, Umweltzerstörung und sozialer Ungerechtigkeit beiträgt."
Doch nicht nur der Begriff Wachstum wird von der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP neu definiert, sondern auch der Begriff Wohlstand. Nicht mehr das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Summe aller wirtschaftlichen Leistungen eines Landes, soll zählen, sondern es werden sogenannte Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsindikatoren erhoben. Sie reichen von sozialen Faktoren über Umwelt- und Klimaschutz, Bildung und Forschung, Demografie bis zu öffentlichen Finanzen und der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.
Kritik von der Opposition
Für die frühere Regierungspartei CDU, die bis zum Regierungswechsel das Wirtschaftsministerium führte, der neue Ansatz der falsche Weg. "Für eine gute, prosperierende und nachhaltige Wirtschaftspolitik braucht es mehr als einen vom Minister definierten ökologischen Glücksindex und neue Wohlstandskriterien", kritisiert die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionfraktion im Bundestag, die frühere Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner. Das BIP bleibe national und international zentraler Wachstumsmaßstab, "darin wird sich auch der Wirtschaftsminister messen lassen müssen".
Es sei zu kurz gegriffen ist, ökologischen Interessen und Zielen uneingeschränkte Vorfahrt einzuräumen. "Bei allem, was wir tun, müssen wir die Belange der ordentlich wirtschaftenden Menschen, der Unternehmer und ihrer Beschäftigten, ernst nehmen, um den Wirtschafts- und Arbeitsplatzstandort Deutschland in seiner Breite zu stärken und resilienter zu machen", so Klöckner.
Wirtschaftsverbände mahnen
Ähnlich reagiert der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Ein nachhaltiges und sozial ausgewogenes Wachstum sei zwar erstrebenswert und die Messung von Wohlstand könne "durchaus über die simple Erfassung der realen Wirtschaftsleistung hinausgehen". Aber: "Die ambitionierte Umwelt- und Klimapolitik der neuen Bundesregierung darf unternehmerische Aktivitäten nicht gefährden."
Vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) kommt die Ermahnung, Wettbewerbsnachteile für die deutschen Unternehmen zu vermeiden. Alle Maßnahmen auf dem Weg zur Klimawende müssten international abgestimmt werden. "Dieser Aspekt kommt im Bericht zu kurz. Vielmehr sollte die Bundesregierung im Rahmen ihrer G7-Präsidentschaft ihre Vorhaben umsetzen, um im Kreis der bedeutendsten Industrienationen Ziele im Klima- und Umweltschutz und bei der Energiewende verbindlich zu vereinbaren."