Geschwisterrivalität sorgt für Klickzahlen
13. Februar 2022"Habt ihr unsere Mittlere gesehen? Nein?" fragt die junge Frau in einen TikTok-Video. Sie trägt das auf TikTok gängige "Mami"-Kostüm - einen Bademantel und Brille und tut, als sei sie eine Mutter, die sich an die anderen Geschwister wendet. TikTokerin Khalessa Guevara spricht in einem lässigen, gleichgültigen Ton: "Ich habe sie schon ein paar Tage nicht gesehen. Habt ihr ihre Nummer?"
In einem TikTok-Videoausschnitt unter dem Hashtag #siblings empört sich Amanda McCants - vermutlich an die Eltern gerichtet: "Nein, ist in Ordnung. Brüllt mich an wegen irgendwas, das ich nicht getan habe, damit ich später im Leben immer nett zu den Leuten bin."
Und in einem anderen Post mit dem Titel "Youngest child problems" bewegt die 23-jährige TikTokerin Sam Perry die Lippen zu einem theatralischem Lied, während oben die Textzeile läuft "Immer wurde ich mit meinen Geschwistern verglichen und konnte mich nicht selbst finden, als ich groß wurde… Kein Wunder, dass ich immer denke, ich müsste alles gut können, und unrealistische Erwartungen an mich selbst habe."
Der Wievieltgeborene bist du?
Die Nutzer der sozialen Medien scheinen fasziniert zu sein von der Vorstellung, dass die Reihenfolge der Geburt sich nicht nur auf die Persönlichkeit eines Menschen auswirkt, sondern auch darauf, wie Eltern ihre Kinder behandeln.
Auf praktisch allen sozialen Netzwerken lassen sich zahllose Videos, Grafiken und Memes finden, die von den Vorteilen und Gefahren erzählen, die das Leben für das älteste, mittlere oder jüngste Kind bereithält.
Allein auf TikTok wurden Videos mit dem Hashtag #middlechildproblems mindestens 2,2 Milliarden Mal aufgerufen. Manche Accounts haben Millionen Anhänger gewonnen mit Videos, die sich auf "Geschwister-Comedy" spezialisieren oder sich darüber lustig machen, wie unterschiedlich Kinder von ihren Eltern behandelt werden, je nachdem, welchen Platz sie in der Geburtsreihenfolge einnehmen.
Unter den Videos, die viral gehen, sind auch solche von Menschen, die angeben, diplomierte Psychologen zu sein und die eine vereinfachte Version der Theorien von Alfred Adler zur Geschwisterkonstellation vorstellen - eine Theorie, die noch immer unbelegt bleibt.
Populär und überholt
Alfred Adler war ein österreichischer Psychotherapeut, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Geburtsreihfolgentheorie entwickelte.
Laut dem Alfred-Adler-Institut in Mainz legt die Theorie dar, wie die Reihenfolge, in der ein Kind geboren wird, seine Entwicklung und Persönlichkeit prägt.
Ein Großteil der Inhalte in den sozialen Medien spiegelt die Kategorisierung von Geschwistern nach Adler wider: Erstgeborene sind in der Regel verantwortungsbewusst, autoritär und fühlen sich ständig unter Druck, die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen; das mittlere Kind wird häufig vergessen und das jüngste ist selbstbewusst, lebenslustig und wild.
Seit Adler die Theorie zum ersten Mal formulierte, wurde ein ganzer Stapel populärer Bücher zum Thema veröffentlicht. Doch in den letzten zehn Jahren haben sie eine Reihe von Studien mit großen Stichproben und fortschrittlichen statistischen Methoden in Verruf gebracht.
Hierzu zählt eine Studie von Rodica Damian und Brent Roberts, für die sie etwa 300.000 US-Amerikaner befragten. Sie stellten fest, dass die Geburtsreihenfolge keinerlei Auswirkungen auf die Persönlichkeitsmerkmale hatte. Andere Studien mit großen Stichproben in Großbritannien, Deutschland und anderen Ländern kamen zu ähnlichen Ergebnissen.
Zwar kann sich die Geburtsreihenfolge auf das Leben auswirken, doch welchen Einfluss sie tatsächlich hat, ist von Kulturkreis zu Kulturkreis und sogar von Familie zu Familie unterschiedlich, sagt Damian der DW. Sie hinterlässt kein erkennbares, universelles Muster im Charakter der Menschen.
Geburtsreihenfolge und Erziehung
"Die Geburtsreihenfolge kann sich auf unser Leben auswirken, wenn die Gesellschaft uns aufgrund kultureller Werte in eine bestimmte Richtung drängt oder die Eltern uns wegen dieser Werte anders behandeln", erläutert Damian, die an der Universität von Houston Sozialpsychologie lehrt.
"Konzentriert zum Beispiel eine Familie aus kulturellen Gründen ihre Ressourcen auf das erstgeborene Kind, dann wird dieses als Erwachsener zu einem einflussreicheren Mitglied der erweiterten Familie."
Während einige Studien darauf hinweisen, dass Erstgeborene in den USA etwas gebildeter seien als ihre Geschwister, zitiert Damian Untersuchungen einer indonesischen Stichprobe, die zum gegenteiligen Ergebnis kam: "Später geborene Kinder in Indonesien sind tendenziell besser gebildet, weil die älteren Geschwister häufig den Eltern in der Landwirtschaft oder bei der Versorgung der Geschwister helfen müssen."
In den Vereinigten Staaten sind Erstgeborene möglicherweise ganz einfach deshalb in höheren Bildungsinstitutionen überrepräsentiert, "weil die Eltern mit den Studiengebühren für weitere Kinder überfordert sind", so Damian.
Selbst wenn Eltern ihre Kinder je nach Platz in der Geburtsreihenfolge unterschiedlich behandeln - worüber sich viele Nutzer der sozialen Medien zu beschweren scheinen – sind laut Damian andere Faktoren für die Persönlichkeitsentwicklung erheblich wichtiger.
"Welche Freunde man als Heranwachsender hat, mit welchen Gleichaltrigen man sich umgibt, das ist wichtiger für die Persönlichkeit und die Entwicklung als die Eltern", stellt Damian klar.
"Das erstgeborene Kind mag dazu erzogen werden, verantwortungsbewusst zu sein, aber dann kommt es in die Pubertät, umgibt sich mit fragwürdigen Freunden und verhält sich unvernünftig."
"Die Persönlichkeitsmerkmale sind oft das Ergebnis einer Kombination aus genetischen Anlagen und der Erfahrungen, die man im Leben sammelt. Die Geburtsreihenfolge hat darauf keinen Einfluss, sei es direkt oder über die Eltern", betont Damian.
Was macht die Geburtsreihenfolge so faszinierend?
Trotz gegenteiliger Annahmen, die öffentliche Faszination an der Geburtsreihenfolge lässt nicht nach. Im Gegenteil, das Interesse scheint zu wachsen - insbesondere in den sozialen Netzwerken.
"Ich werde ständig für Interviews angefragt von Medien, die sich sehr für die Geburtsreihenfolgentheorie interessieren", berichtet Damian. "Manchmal schreiben mir auch Leute und sagen: 'Sie haben Unrecht! Wir haben Kinder und wir sehen diese Unterschiede im Verhalten bei ihnen'".
Christian Montag ist Psychologe und beschäftigt sich mit den sozialen Medien. Für ihn ist diese Popularität einer überholten Theorie typisch für das Medium.
"Bei vielen Inhalten und auch Verhaltensweisen online können wir beobachten, dass die Leute sich nicht analytisch mit etwas befassen wollen, weil das Aufwand bedeutet", äußert er gegenüber der DW. "Es ist einfacher, nur zu reflektieren, zu sagen, ich verarbeite nur das, was in meine Weltsicht passt."
Die Algorithmen der sozialen Medien, von denen viele geheim gehalten werden, erzeugten virtuelle Blasen und Echokammern, in denen die Menschen nur mit Inhalten in Berührung kommen, die sie mögen und die sie bestätigen, führt Montag aus.
Mit anderen Worten, wenn sich jemand in seiner Kindheit als mittleres Kind vernachlässigt fühlte, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich dieses Gefühl dank einem ständigen Strom von Social-Media-Inhalten mit genau diesem Thema zu einer Überzeugung wandelt.
In der heutigen digitalen Welt unterhalten sich Kinder über ihre Probleme am liebsten online, anstatt mit ihren Familien zu sprechen, fügt Montag hinzu.
Damian ist überzeugt, dass uns die Geburtsreihenfolgentheorie die Möglichkeit gibt, etwas sehr Typisches zu tun: anderen die Schuld zuzuschieben. "Oft ist es am einfachsten, die Eltern oder die Familie verantwortlich zu machen."
Ein Verhalten, das zutiefst menschlich ist - trotz aller Unterschiede.
Aus dem Englischen adaptiert von Phoenix Hanzo.