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Freie Wohungssuche für Flüchtlinge

Jan D. Walter26. Oktober 2015

Zehn Jahre nach den Krawallen in französischen Vorstädten plant Hamburg, Siedlungen für bis zu 4500 Flüchtlinge zu bauen. Die Soziologin Birgit zur Nieden plädiert dafür, dass Flüchtlinge ihren Wohnraum selbst suchen.

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Ein riesiger Wohnblock in einem Pariser Vorort (Foto: DW/S. Oelze)
Ein Wohnblock in einem Pariser VorortBild: DW/S. Oelze

Vor zehn Jahren starben im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei. Daraufhin brachen wochenlange Unruhen in mehreren französischen Großstädten aus. Soziologen nannten damals das städtebauliche Konzept als Ursache für die Krawalle: In den 1950er Jahren wurden große Siedlungen am Stadtrand für die aus nordafrikanischen Kolonien einwandernden Franzosen erbaut.

Im Jahr 2015 plant der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, bis Ende 2016 mehrere Siedlungen mit jeweils 800 Wohneinheiten für bis zu 4500 Flüchtlinge zu errichten. Erst nach 15 Jahren sollen auch andere Menschen dort einziehen dürfen.

DW: Flüchtlingen soliden Wohnraum anzubieten ist sicher ein Gebot der Stunde. Aber wie sinnvoll ist das Hamburger Konzept?

Birgit zur Nieden: Ich halte es grundsätzlich für eine schlechte Idee, viele Menschen, die sich - wie die gerade angekommenen Flüchtlinge - in einer ähnlichen sozialen Situation befinden, an bestimmten Orten zu konzentrieren. Es geht ja darum, dass diese Leute hier ankommen, aber dafür müssen sie Kontakte zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft aufnehmen. Das geschieht aber nicht, wenn sie in Supermärkten und Schulen nur einander begegnen. Dafür müssten sie die gleiche Infrastruktur benutzen wie Menschen aus anderen sozialen Kontexten.

Frankreich Paris Unruhen in Banlieues 2005: Ein Feuerwehrmann versucht einbrennendes Auto zu löschen. (Foto: Picture-alliance/dpa)
Ausschreitungen in französischen Vorstädten nach dem Tod zweier Jugendlicher am 27. Oktober 2005Bild: picture-alliance/dpa

Der inzwischen verstorbene Soziologe Hartmut Häußermann sah ein Hauptproblem der Pariser Banlieues in der geografischen Entfernung zum Stadtzentrum. Die Hamburger Flüchtlingssiedlungen sollen teils in recht zentraler Lage entstehen. Bereits vorhandene Schulen, Einkaufsstraßen und auch Arbeitgeber wären also erreichbar. Wieso könnten sich dennoch Probleme ergeben?

Die Probleme sind nicht programmiert. Aber die Forschung zeigt, dass bestimmte Adressen oder Schulen zum Stigma werden können. Und diese Stigmatisierung kommt nicht nur von außen, sondern wird auch von den Menschen selbst empfunden. Durch die Abschottung kann bei den Betroffenen auch das Gefühl entstehen, dass sie von der Gesellschaft ferngehalten werden sollen.

Sie sprechen die Schulen an, die ein Schwerpunkt Ihrer Forschung sind. Welche Schulpolitik würden Sie den Flüchtlingen wünschen?

Da gilt im Prinzip das Gleiche: Schulen sind nicht per se schlecht, weil sie ausschließlich von Migrantenkindern besucht werden. Aber wenn diese Kinder die gesamte Schullaufbahn unter sich bleiben - und dazu hat die langjährige Praxis der Regelklassen für Ausländer teilweise geführt - dann ist das gesellschaftlich schon eine seltsame Entwicklung. Andersherum hat es einen positiven Effekt, eine ethnisch-kulturelle Trennung in Schulen zu vermeiden, um gesellschaftlich zu wachsen und die Sprache gemeinsam zu erlernen.

Welche Rolle spielt der Wohnort beim Spracherwerb?

Es ist zwar nicht gesagt, dass Nachbarn sich automatisch aufeinander beziehen, voneinander lernen, sich miteinander unterhalten oder überhaupt kommunizieren. Gleichwohl ergeben sich natürlich mehr Gelegenheiten und ein viel stärkerer Anreiz für Flüchtlinge und Migranten, Deutsch zu sprechen und zu lernen, wenn in ihrem Umfeld auch Deutsch gesprochen wird.

Weiße Wohncontainer: Provisorische Flüchtlingsunterkunft in Hamburg-Bahrenfeld (Foto: Picture-alliance/dpa/B. Marks)
Kritisiertes Vorhaben: Bis Ende 2016 will Hamburg Wohnblocks für 28.000 Flüchtlinge bauenBild: picture-alliance/dpa/B. Marks

Worauf sollten die Gemeinden also achten, wenn Sie Wohnraum für Flüchtlinge bereitstellen wollen?

Es wäre wichtig, dass die Menschen dort untergebracht sind, wo sich die Nachbarn in allen möglichen anderen Lebenslagen befinden. Dass sie die Möglichkeit haben, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, in etablierte Geschäfte - egal ob deutsch, türkisch oder sonst etwas - zu gehen, damit sie nicht auf ihre eigene Gesellschaft angewiesen sind.

Wie sinnvoll finden Sie es überhaupt, die Ansiedlung zentral zu steuern?

Das halte ich durchaus für schwierig. Flüchtlinge sollten die Möglichkeit haben, sich auf dem Markt eine Wohnung zu suchen.

Statt Wohnungen sollte man den Flüchtlingen also besser Wohngeld geben?

Unbedingt. Wobei man eben sagen muss, dass es in Städten wie Hamburg - oder inzwischen auch Berlin - zunehmend schwierig wird, Wohnraum zu finden, den man von Transferleistungen bezahlen kann. Aber das betrifft natürlich nicht nur Flüchtlinge. Da müsste also allgemein die Wohnungspolitik überdacht werden, damit allgemein mehr bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht. Aber warum sollte der dann nur Flüchtlingen zugänglich sein?

Birgit zur Nieden ist Soziologin an der Berliner Humboldt-Universität mit einem Forschungsschwerpunkt auf Migrationspolitik.