Späte Anerkennung
24. Mai 2010Bis zum Tag ihrer Verhaftung am 13. Juli 1942 schrieb Irène Némirovsky. Es sollte ein posthumer Roman werden – und das ahnte die russisch-jüdische Autorin. Sie starb einen Monat später mit 39 Jahren in Auschwitz. Das Interesse an ihrem Werk ist heute eng verbunden mit ihrem tragischen Schicksal, das geprägt wurde von den Stürmen des 20. Jahrhunderts.
"Die jungen französischen Frauen haben gewöhnlich nicht die menschliche Erfahrung, die ich durch die Umstände gesammelt habe", sagt Irène Némirovsky in einem Radiointerview im Jahr 1930 in Paris. Anfang des 20. Jahrhunderts in Kiew als Tochter eines reichen jüdischen Bankiers geboren, war sie vor der russischen Revolution nach Frankreich geflohen. Mit ihrem Erstling "David Golder" wird sie 1929 über Nacht zum Star in der französischen Literaturszene.
"Ein schönes Buch, das stinkt"
Der Roman erzählt schonungslos die Geschichte eines gierigen jüdischen Ölspekulanten, der im Zuge seines Ruins die Zuneigung seiner Freunde und Familie verliert. "Ein gutes Buch, das stinkt", urteilt ein Kritiker. Und das von einer 26-jährigen Frau verfasst – einer Russin noch dazu.
An Klischees über Juden mangelt es nicht in "David Golder". Einige – damals wie heute – sehen es deshalb als antisemitisches Buch. Zu Unrecht, findet der Biograph Olivier Philipponnat. Von Anfang an habe Irène Némirovsky auf diese Beschuldigungen geantwortet, indem sie sagte: "Ich schildere nur das, was ich kenne, und das ist nun einmal die jüdische Geschäftswelt." Sie habe nicht die Satire einer Glaubensgemeinschaft, sondern die der Finanzwelt schreiben wollen. Die Autorin selbst erklärt später, dass sie, hätte es Hitler schon gegeben, "David Golder" ganz bestimmt stark abgemildert hätte.
Eine Fremde in Frankreich
Wie viele ihrer Protagonisten bleibt auch Irène Némirovsky in Frankreich eine Fremde. Die französische Staatsbürgerschaft wird ihr verwehrt, obwohl sie sich selbst als französische Schriftstellerin bezeichnet und Unterstützung großer Literaten bekommt. Inzwischen ist Frankreich von Deutschland besetzt. Ab 1940 darf sie nur noch unter Pseudonym veröffentlichen, verboten werden ihre Bücher von der Besatzungsbehörde bemerkenswerterweise nicht. Desillusioniert schreibt sie: "Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Blutes und schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert."
Die Massenflucht vor den Deutschen sowie die Besatzung will die Autorin in einem großen Roman festhalten. Sie hat nun Paris verlassen und lebt in einem kleinen Dorf Tür an Tür mit deutschen Soldaten. Obwohl es ein Roman bleibt, sei "Suite Française" eine der "genauesten Betrachtungen der Niederträchtigkeit der Franzosen und einzelner Akte von Zivilcourage im Jahr 1940", findet Olivier Philipponnat. Bemerkenswert findet er auch Némirovskys Lehre über die Deutschen: "Es waren unsere Feinde, aber es waren vor allem Menschen." Und das, obwohl sie sich bedroht wusste.
Ein posthumer Geschichtsroman
Erst 2004 erscheint der nie fertig geschriebene Roman und wird zum Bestseller - weltweit. Der Erfolg wird auch von der rührenden Geschichte des Manuskripts getragen. Die beiden Töchter, die den Krieg versteckt überlebt hatten, bewahrten den dicken Ordner wie einen Schatz auf - 62 Jahre lang. Sie dachten erst, es sei ein Tagebuch. "Als wir ihn einem Archiv anvertrauen wollten, wollten wir doch wissen, was wirklich drin steckt", erzählt die ältere Tochter Denise Epstein. "Beim Entziffern achtete ich vor allem darauf, kein Komma und keine durchgestrichene Passage zu übersehen. In dem Moment hatte ich keine Ahnung, dass ich einen Roman abschreibe."
Den Biographen von Irène Némirovsky gelingt es in ihrem Buch, den einzigartigen Weg dieser großen Erzählerin nachzuzeichnen. Eine späte, aber verdiente Anerkennung.
Autorin: Guylaine Tappaz
Redaktion: Gabriela Schaaf
"Irène Némirovsky. Die Biographie." Hg. von Olivier Philipponnat und Patrick Lienhardt. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Verlag Albrecht Knaus. 576 Seiten, 29,95 Euro.