Schulz bekommt Druck aus der Wirtschaft
21. Februar 2017"Viele Vorschläge sind ohne präzise Kenntnis der Zahlen oder der Rechtslage in Deutschland formuliert", heißt es in einer Bewertung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), aus der die Zeitungen der Funke Mediengruppe zitieren. Eine Verlängerung des Arbeitslosengeld-I-Bezugs würde "eine schnelle Wiederaufnahme von Arbeit erschweren". Zudem habe SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz "viel zu hohe Zahlen" zu befristeten Beschäftigungsverhältnissen genannt, hieß es weiter. In der Altersgruppe zwischen 25 und 35 Jahren seien tatsächlich nur gut zwölf Prozent der Beschäftigten befristet tätig. Schulz hatte dagegen im Interview der "Bild"-Zeitung von knapp 40 Prozent gesprochen.
Schulz hatte am Montag angekündigt, mit einer Änderung der umstrittenen Agenda 2010 in den Wahlkampf ziehen zu wollen. "Menschen, die viele Jahre, oft Jahrzehnte, hart arbeiten und ihre Beiträge gezahlt haben und zahlen, haben ein Recht auf entsprechenden Schutz und Unterstützung, wenn sie - oft unverschuldet - in große Probleme geraten", hatte der 61-Jährige bei einer Arbeitnehmerkonferenz seiner Partei in Bielefeld gesagt. In der dort erscheinenden Tageszeitung "Neue Westfälische" begründete er die Motivation für seinen Vorstoß: "Die Agenda war in vielen Punkten ein Erfolg, in manchen nicht. Wir müssen Lösungen mit heutigen Antworten finden und nicht mit einer rückwärts gewandten Debatte."
Kampeter: "Beschäftigung gefördert und Arbeitslosigkeit abgebaut"
Dagegen sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter der "Passauer Neuen Presse", die Agenda 2010 habe Beschäftigung gefördert und Arbeitslosigkeit abgebaut. "Wer die Reformen zurückdrehen möchte, gefährdet diese Erfolge." Die von Schulz beklagte große Gerechtigkeitslücke in Deutschland sehe er nicht, so Kampeter weiter. Tatsache sei dagegen: "Die Renten steigen so stark wie seit mehr als zwanzig Jahren nicht und die Realeinkommen sind ebenso stark gestiegen. Es haben so viele Menschen Arbeit in Deutschland wie noch nie zuvor, viele davon in unbefristeten Vollzeit-Beschäftigungen."
Warnungen vor einer Aufweichung der Agenda 2010 kamen auch von anderen Wirtschaftsexperten. "Die Politik sollte sich auch im Wahlkampfmodus erst einmal fragen, welche Grundpfeiler in den vergangenen Jahren die Stabilität des deutschen Arbeitsmarkts getragen haben", sagte der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, der "Rheinischen Post". "Ein wesentlicher Bestandteil waren die Reformen der Agenda 2010, die den beeindruckenden Abbau der Arbeitslosigkeit und gleichzeitigen Aufbau der Beschäftigung seit 2005 mitgetragen haben." Der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, sagte der Zeitung: "Bei undifferenzierter Rückabwicklung der Agenda drohen Gefahren für den Arbeitsmarkt und für das Wirtschaftswachstum in Deutschland."
Hüther: "Es wäre reine Alimentierung"
Der Kritik an Schulz' Plänen schloss sich auch das Institut der deutschen Wirtschaft an. Direktor Michael Hüther warnte in der "Passauer Neuen Presse" ebenfalls vor einer verlängerten Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I. "Eine Ausdehnung der Zahlung führt nicht zu höherer Wiederbeschäftigung, das wissen wir aus vielen Studien und Befragungen. Es wäre reine Alimentierung." Ähnlich äußerte sich der Koblenzer Arbeitsmarktforscher Stefan Sell im MDR: "Das ist eine Korrektur, die dem Einzelnen dann ein, zwei, drei Monate hilft. Aber es ändert an dem Hartz-IV-System doch gar nichts."
Der frühere Chef der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, geht davon aus, dass die SPD mit ihren neuen Wahlversprechen den Arbeitsmarkt nicht verbessern werde. "Das größte Arbeitsmarktproblem ist immer noch die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit", sagte der Ökonom dem "Handelsblatt". Den Langzeitarbeitslosen helfe eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds nicht.
Unterstützung für Schulz kam dagegen vom konservativen SPD-Flügel "Seeheimer Kreis". "Das sind Reparaturmaßnahmen, wo die Agenda 2010 nicht so gewirkt hat, wie wir uns das vorgestellt haben, wo es Fehlentwicklungen und Missbrauch gab", sagte Seeheimer-Chef Johannes Kahrs der "Rheinischen Post". Positiv nahm auch die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie die Pläne auf. Ihr Vorsitzender Michael Vassiliadis sagte der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung": Die "sachgrundlose" Befristung von Arbeitsverträgen "ist ein Übel, das inzwischen fast jede Familie kennt - egal, ob Akademiker oder einfache Arbeiter dazugehören." Auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) stimmte dem Vorstoß von Schulz zu: "Wer länger in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat als andere, sollte auch mehr davon haben", sagte er der Zeitung.
Özdemir: "Mit SPD ein politischer Aufbruch machbar"
Angesichts des Umfrage-Aufschwungs der Sozialdemokraten sieht der Grünen-Chef und Spitzenkandidat seiner Partei bei der Bundestagswahl, Cem Özdemir, wieder Chancen für ein neues rot-grünes Bündnis. Die Grünen hätten "schon einmal zwischen 1998 und 2005 gezeigt, dass mit der SPD ein politischer Aufbruch" machbar sei, sagte Özdemir der "Berliner Zeitung". Nach Informationen der Zeitung werden sich Özdemir und seine Ko-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt demnächst mit Schulz treffen. Dies sei schon länger geplant. In jedem Fall mache es den Wahlkampf wieder spannend, wenn es nicht nur um die Frage geht, mit wem Bundeskanzlerin Angela Merkel regieren werde, so Özdemir. Es komme nun auf die Grünen an, um vier weitere Jahre große Koalition zu verhindern.
sti/stu (dpa, afp)