Die Zerreißprobe der SPD
16. Januar 2018Mitte des 19. Jahrhunderts herrscht in Deutschland eine Zeit des Umbruchs und großer Not. Die Industrialisierung sowie das Bevölkerungswachstum haben eine verheerende Massenarmut ausgelöst. Immer lauter wird der Protest gegen soziale Ungerechtigkeit zwischen Fabrikbesitzern und Arbeitern.
Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) gehört zu den ersten Organisationen, die sich für die Benachteiligten einsetzen. Den Machthabern im Deutschen Kaiserreich ist sie ein Dorn im Auge. Gesetze sollen Versammlungen der Partei verhindern. Trotz Unterdrückung gewinnt sie an Beliebtheit.
1890 benennt sich die SAPD in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) um. Sie ist die älteste Partei Deutschlands. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bekommt sie die Chance, Politik mitzugestalten. In der Weimarer Republik, der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland, werden Sozialdemokraten in Regierungspositionen gewählt. 1918 wird das Frauenwahlrecht eingeführt, das die SPD von Anfang an gefordert hatte.
Von den Nazis verfolgt
Instabile politische Verhältnisse und die Weltwirtschaftskrise sorgen dafür, dass 1933 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) Adolf Hitlers an die Macht kommt. Sozialdemokraten und andere Widerständler, die für ihre Ideale kämpfen und nicht ins Exil flüchten, kommen in Konzentrationslagern ums Leben oder werden hingerichtet.
Hans Keune vom Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen bewertet diese Erfahrung als prägend für das sozialdemokratische Selbstbild. Die historische Erzählung der SPD sei, "dass sie in den dunklen Zeiten der deutschen Geschichte, in der Diktatur, eine demokratische Kraft des Widerstands gewesen ist und Haltung bewahrte".
Mit dem sogenannten "Godesberger Parteiprogramm" verabschiedet sich die SPD Ende 1959 endgültig vom Marxismus und bekennt sich zur Marktwirtschaft. Damit öffnet sie sich neuen Wählerschichten. Zehn Jahre später schafft sie den Sprung an die Macht. In einer Koalition mit der Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP) stellt sie den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler: Willy Brandt. Brandt setzt sich für eine Entspannungspolitik mit den Staaten des Warschauer Paktes ein. Sein Kniefall in Warschau am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal des Ghetto-Aufstandes, den die Deutschen 1943 niedergeschlagen hatten, findet weltweite Beachtung.
Vom Nobelpreis zum Rücktritt
Eine herausragende Leistung in der deutschen Geschichte, urteilt Thomas Poguntke. "Historisch ist Brandts Ostpolitik die größte Errungenschaft der Nachkriegs-SPD", sagt der Direktor des Instituts für Parteienforschung der Universität Düsseldorf der DW. Diese sei gekennzeichnet gewesen durch den Erfolg, "die Wunden der Kriegsfolgen zu heilen und sich auch mit den politischen Realitäten, das heißt der Teilung Europas, dem Verlust der deutschen Ostgebiete und der Teilung Deutschlands anzufreunden".
Für seine Ostpolitik erhält Willy Brandt den Friedensnobelpreis. Seine Kanzlerschaft endet 1974 unerwartet. Sein Referent Günter Guillaume wird als DDR-Spion enttarnt. Brandt tritt zurück. Finanzminister Helmut Schmidt wird sein Nachfolger. Die vielleicht heftigste Zerreißprobe steht der Partei aber noch bevor.
Agenda 2010 spaltet die SPD
Nach der Ära des langjährigen CDU-Kanzlers Helmut Kohl übernimmt SPD-Chef Gerhard Schröder ab 1998 die Amtsgeschäfte. Er führt die "Agenda 2010" ein. Dazu gehören eine Reduzierung der Arbeitslosen- und Sozialhilfeleistungen und Niedriglöhne zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Wirtschaftsdaten scheinen Schröder Recht zu geben, die Traditionalisten in der SPD und Stammwähler fühlen sich jedoch im Stich gelassen. Sie sprechen vom Ausverkauf der Partei-Seele. Die Parteilinke spaltet sich ab und vereinigt sich mit den Nachfolgern der ehemaligen ostdeutschen Staatspartei.
In den späteren großen Koalitionen unter der Führung von Angela Merkel muss die SPD weitere Zugeständnisse machen. Aber auch wenn sie sich programmatisch durchsetzt wie etwa beim lange umstrittenen Mindestlohn - am Ende profitiert die Kanzlerin. Pleiten bei Landtagswahlen, wechselnde Parteivorsitzende und ständige Flügelkämpfe lassen die SPD orientierungslos erscheinen. Andere Parteien wie die Linke oder die Rechten von der AFD profitieren von dieser Schwäche.
Konkurrenz von links und rechts
Die SPD habe eindeutig mehr mit Wettbewerbern zu kämpfen und gerate bis zu einem gewissen Grad in die Zange, sagt Politikforscher Poguntke: "Wenn es mehr Parteien gibt, werden die einzelnen fast zwangsläufig kleiner." Zudem sei innerhalb der SPD noch nicht "richtig ausgekämpft, ob man sich eher zur Mitte orientiert oder sich doch wieder auf linke Werte zurückbesinnen sollte".
Nach der letzten Bundestagswahl wollte sich die SPD erneuern, eine Werte-Debatte führen und sich nicht an einer Neu-Auflage der großen Koalition beteiligen. Nun spricht ihre Spitze erneut über eine solche Möglichkeit. Inwieweit kann sie ihren Idealen, für die sie so lange gekämpft und gelitten hat, treu bleiben?
Für Parteienforscher Poguntke von der Universität Düsseldorf ist nichts ausgeschlossen: "Jetzt ist sie zerrissen zwischen diesem Wunsch, sich in der Opposition besser aufzustellen und dem Zwang, sich an einer großen Koalition zu beteiligen." Es sei noch nicht vollkommen klar, ob die Basis mitgehe: "Das könnte in einer schlimmen Niederlage für die Parteiführung enden."