1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Sportpsychologie im deutschen Fußball macht Fortschritte

Jonathan Harding
27. Dezember 2023

Die Psychologie im deutschen Fußball ist in die Kritik geraten. Dabei sind viele derjenigen, die in diesem Bereich arbeiten, positiv gestimmt.

https://p.dw.com/p/4acc1
Deutschland Mönchengladbach 2023 | Thomas Tuchel beim Spiel gegen FC Bayern München
Erfolgstrainer Thomas Tuchel vom FC Bayern München weiß um den wichtigen mentalen Aspekt des FußballsBild: Peter Schatz/picture alliance

Etwa fünf Prozent der Athletinnen und Athleten im Spitzensport leiden an Depressionen. Das entspricht etwa dem Anteil in der Allgemeinbevölkerung. Spätestens seit dem tragischen Tod von Nationaltorwart Robert Enke im Jahr 2009 ist der deutsche Fußball für psychische Erkrankungen wie Depressionen sehr sensibilisiert.

Im September 2023 forderte Sportpsychologe Rene Paasch einen "Paradigmenwechsel", da "überholte Denkmuster und Ansätze" wenig Raum für Innovationen ließen. Viele andere Experten auf diesem Gebiet sind jedoch anderer Meinung.

Nach dem Tod von Robert Enke erinnern Kerzen vor dem Stadion in Hannover an den Nationaltorwart.
Trauer um Robert Enke, der sich am 10. November 2009 das Leben nahmBild: Kay Nietfeld/dpa/picture-alliance

So äußerte sich Johanna Belz, Sportpsychologin an der Deutschen Sporthochschule in Köln, positiv über ihre Zeit an der Fußballschule des Bundesligisten 1. FC Köln und über das umfassende sportpsychologische Konzept des Vereins. "Meine Erfahrungen habe ich mit sehr offenen Akademien gemacht, die viel mehr als das Minimum tun", sagt Belz im DW-Interview. "Aber natürlich ist das in Akademien, in denen ein Sportpsychologe für zehn Teams verantwortlich ist, nicht möglich. Einige müssen sich selbst im Spiegel betrachten. Aber wir müssen auch die Akademien würdigen, die mehr als das Nötige tun."

Fortschritte werden erzielt

Auch Christoph Herr, Koordinator für Psychologie beim Deutschen Fußball-Bund (DFB), widerspricht der von Paasch geäußerten Einschätzung. "Ein Problem für die Sportpsychologie im deutschen Fußball besteht aktuell darin, dass es immer noch ein stereotypisierendes, konservatives Bild von psychologischer Arbeit im Hochleistungskontext gibt. Deshalb ist es sehr wichtig, wie wir unsere vertrauensvolle Arbeit nach außen tragen", so Herr. "Es geht nicht immer nur darum, dass wir lauter sein sollen. Wir sollten den erfahrenen Kollegen, die im Fußball etabliert sind, genauer zuhören. Und da würde ich mir manchmal ein bisschen weniger pauschalisierende Aussagen und mehr kollegiales, ethisches Verhalten wünschen. Dann wäre das Bild der Sportpsychologie auch nicht so verzerrt."

In dieser Diskussion wird oft vergessen, dass es erst fünf Jahre her ist, seitdem der DFB Sportpsychologinnen oder Sportpsychologen an den Nachwuchsakademien der Vereine zur Pflicht gemacht hat - und in dieser Zeit gab es eine weltweite Pandemie. Vor diesem Hintergrund gebe es solide Fortschritte, findet Christoph Herr.

"Wir kennen auch nicht die einzig richtige Wahrheit, wir wollen vielmehr in den Diskurs mit Trainern und Entscheidungsträgern kommen. Die Einbindung von psychologischem Knowhow innerhalb des Fußballsystems ist elementar für eine gesunde Leistungsentwicklung von jungen Menschen." An der Sensibilisierung dafür müsse weiter gearbeitet werden.

Steigende Nachfrage

Timo Heinze ist einer der beiden Sportpsychologen der Akademie von Bayer 04 Leverkusen und hat mit einigen der besten Nachwuchsspieler in Deutschland gearbeitet. Für Heinze, der früher selbst in der 3. Liga Fußball spielte, vollzieht sich der Wandel hin zu mehr sportpsychologischer Unterstützung zwar nicht schnell, aber er findet statt.

Deutschland 2008/2009 | Timo Heinze in Aktion für FC Bayern München II
Timo Heinze spielte in seiner Karriere auch für die zweite Mannschaft von Bayern MünchenBild: Picture Point/IMAGO

"Im Vergleich zu vielen Berufsfeldern im Fußball stehen wir noch immer relativ am Anfang", sagt Heinze der DW. "Allerdings wächst von Saison zu Saison sowohl die Quantität als auch die Qualität in der Sportpsychologie, und ich bin davon überzeugt, dass sich dieser Trend in Zukunft fortführen wird. Der Bedarf ist einfach da und wird auch von den Vereinen und Verantwortlichen erkannt. Im Vergleich zu anderen Bereichen der fußballerischen Leistungsfähigkeit wie Technik, Taktik oder Athletik eines Spielers bieten die mentalen Fähigkeiten sicherlich das größte Entwicklungspotenzial."

Am Ende müsse man für die Spieler einen Raum schaffen, in dem ihre mentale Gesundheit trotz des knallharten Fußballgeschäfts bestmöglich geschützt werde, so Heinze: "Es geht darum, ihnen im Sinne einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung individuelle Lösungen in unterschiedlichen Lebensbereichen näherzubringen. Und natürlich darum, ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie ihre Leistung über mentale Strategien verbessern können."

Investieren, expandieren, spezialisieren

Die Einstellung von mehr Sportpsychologen ist absolut notwendig, auch im Frauenfußball. Denn dort, so Sportpsychologin Belz, werden mehr psychologische Angebote benötigt. Mehr Personal bedeute auch eine bessere Versorgung und eine stärkere Spezialisierung.

Doch auch Veränderungen im Umfeld seien notwendig, um den Erfolg der Arbeit zu steigern, findet Christoph Herr: "Warum muss sich eine Person häufig um Hunderte von Problemen kümmern, wenn sie sich durch eine Verbesserung des Umfelds doch eigentlich auf die wesentlichen Themen fokussieren könnte?"

Halbfinale U17-Weltmeisterschaft 2023 Deutschland Argentinien
Der WM-Titel der deutschen U17 erinnert daran, wie wichtig die Arbeit mit jungen Spielern istBild: Doc. LOC WCU17/NFL

Der DFB scheint einige dieser Lücken erkannt zu haben und bietet einen sechsmonatigen Kurs speziell für Sportpsychologen an, die im Fußball tätig sind. Zudem hat der Verband sechs regionale Zentren eingerichtet, in denen sich Sportpsychologen aus verschiedenen Nachwuchsakademien treffen und austauschen können.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.