Spuren jüdischen Lebens
6. Juni 2013"Entweder mir ist schwindelig, oder der Boden schwankt!" Mit unsicheren Schritten bewegt sich Peter Mertens durch den Wald aus symmetrisch angeordneten Betonquadern. Je weiter sich der 63-jährige Tourist aus Darmstadt hineinbewegt, desto höher werden die Stelen und desto mehr scheint er selbst darin zu verschwinden. Ein Gefühl der Unsicherheit, das gewollt ist: Das von Peter Eisenman entworfene und 2005 eingeweihte Holocaust-Mahnmal im Herzen Berlins erinnert an jene sechs Millionen Juden, die in Europa unter der Herrschaft der Nationalsozialisten ermordet wurden. Die meisten von ihnen wurden verbrannt oder in Massengräbern verscharrt.
Mit dem Denkmal in Berlin, dessen Betonstelen an Grabsteine erinnern, gibt es nun einen Ort, an dem dieser Opfer gedacht werden kann. Ein Dokumentationszentrum unter der Erde zeichnet zudem die Geschichte der Judenverfolgung nach und erzählt mithilfe von Fotos und Briefen die Geschichte einzelner Schicksale.
Deutsch-jüdische Historie in Kreuzberg
Den Massenmord an den Juden thematisiert auch das Jüdische Museum im Stadtteil Kreuzberg. Seit der Eröffnung 2001 zieht seine spektakuläre Architektur Touristen aus aller Welt an. Vor allem der zickzackförmige Neubau von Architekt Daniel Libeskind weckt ihr Interesse.
"Kurz blieb mir die Luft weg", beschreibt der Berliner Student Holm Weißbach seine beklemmende Erfahrung im Holocaust-Turm. Es ist ein schmaler, hoher Gedenkraum, in den nur durch eine Spalte in der Decke Tageslicht eindringt. In dem dunklen Raum endet ein abwärts geneigter Gang, die sogenannte "Achse des Holocaust". Auch hier ist ein unebener Untergrund Ausdruck für die Schieflage, in die das Leben der Juden in der Nazizeit geriet.
Doch das größte jüdische Museum Europas erinnert nicht nur an die Shoah. In den oberen Etagen entfaltet sich die gesamte 2000-jährige Geschichte der Juden in Deutschland: von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Historische Thorarollen, kostbarer Schmuck und Schriftstücke aus dem Mittelalter verdeutlichen, wie eng die jüdische Kultur mit der deutschen Geschichte verwoben ist. Sie erzählen von Zeiten, in denen jüdische Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler das Geistesleben ihrer deutschen Heimat prägten.
"Total spannend!", lautet Annika Reimanns Fazit nach ihrem dreistündigen Rundgang. "Ich wusste zum Beispiel gar nicht, dass Bob Dylan Jude ist!" Ihre vielfältigen Eindrücke ordnet die 17-Jährige im Museumsgarten. Hier lässt es sich ausspannen, im Sommer nach Wunsch sogar mit einem Picknickkorb aus dem Museumsrestaurant. Vom Innenhof ist der Blick frei auf die beeindruckende Gesamtarchitektur. Das Museum ist eines von vielen Institutionen und Denkmälern, die in den vergangenen 20 Jahren errichtet wurden und die deutsch-jüdische Geschichte aufarbeiten.
Jüdisches Wahrzeichen im Zentrum
Ein Blickfang ist auch die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße. Ihre goldene Kuppel im maurischen Stil strahlt weit über die umliegenden Dächer. Vom ursprünglichen Gebäude der einst größten Synagoge Deutschlands ist jedoch nur ein kleiner Teil erhalten. Er beherbergt heute eine Ausstellung über die 140-jährige Geschichte des Gotteshauses und beschreibt das Leben der Juden in diesem Stadtteil.
Dort entstand bereits Mitte des 18. Jahrhunderts das erste jüdische Zentrum Berlins, in dem sich später viele Einwanderer aus Osteuropa und Russland ansiedelten. Im Zuge der Industrialisierung und der stark wachsenden Bevölkerungszahl entwickelte sich die Gegend zum Armenviertel der Stadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Spuren jüdischen Lebens zerstört.
Erst seit den 1990er Jahren erlebt das jüdische Leben rund um die Synagoge eine kleine Renaissance. Jüdische Geschäfte, Restaurants und Schulen künden davon. Das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge veranstaltet regelmäßig Konzerte, Lesungen und Theateraufführungen. Das Archiv dokumentiert die Geschichte der jüdischen Gemeinde Berlins.
Jeff Cohn lebt in Chicago. Im Centrum Judaicum hat er nach seinen Vorfahren forschen lassen. Seit drei Generationen lebt seine Familie inzwischen in den USA. Dank der Recherche konnte der 59-Jährige die Gräber seiner Urgroßeltern ausfindig machen. Sie liegen auf dem jüdischen Friedhof im Berliner Stadtteil Weißensee.
Letzte Ruhe im Märchenwald
Seit 20 Minuten läuft Jeff Cohn vorbei an imposanten Mausoleen, Marmorstelen und überwucherten Grabfeldern. Endlich, im Schatten hoher Bäume, findet er das Grab seiner Urgroßeltern: es ist unscheinbar und stark verwittert. "Eine zauberhafte letzte Ruhestätte!", sagt Jeff Cohn bewegt. So wie er schätzen zahlreiche Besucher die verwunschene Atmosphäre an diesem Ort und die Ruhe abseits des Großstadttrubels. Die Hälfte von ihnen sind Touristen.
Erstaunlich, dass der riesige Friedhof die Zeit des Nationalsozialismus unbeschadet überstanden hat. Die meisten der 115.000 Grabstellen stammen aus der Zeit vor 1933. Kaum ein Angehöriger pflegt diese Gräber, aber bisweilen lassen Besucher nach alter jüdischer Sitte Steinchen auf den Grabsteinen zurück. Sie bedeuten: "Ihr seid nicht vergessen."