Spurensuche im Nachkriegsdeutschland
26. Oktober 2012Ein Mann kommt an im Deutschland des Jahres 1947. Die Bundesrepublik ist noch nicht gegründet, das ehemals "Deutsche Reich" liegt in Trümmern, ist jetzt Besatzungsgebiet, die so genannten Siegermächte haben das Sagen. Millionen Tote sind zu betrauern, mühsam rappeln sich die Menschen auf aus der Lethargie nach dem Schock der Niederlage und der Befreiung, die viele nicht als solche empfinden. Richard Kornitzer kommt am Bodensee an und fühlt sich fremd im ehedem eigenen Land. Zehn Jahre hat der jüdische Rechtsanwalt im erzwungenen Exil in Kuba gelebt. Jetzt also Lindau. Südwestdeutsche Provinz. Und eine Ehefrau, die er eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen, die ein Jahrzehnt lang auf ihn gewartet hat. Warten musste. Es ist ein sprachloses, ein müdes Wiedersehen. Und der Auftakt zu einer mühevollen Suche nach verlorenen Gemeinsamkeiten.
Der Kampf um Entschädigung
Zurückhaltend, fast spröde schildert Ursula Krechel die Schwierigkeiten bei der Bewältigung des kargen Nachkriegsalltags und dem beruflichen Wiedereinstieg ihres Protagonisten: Richard Kornitzer wird Richter am Landgericht Mainz. Und er muss dort erleben, dass diejenigen, die schon 1933 mit den Wölfen heulten, im Justizapparat noch immer das Sagen haben. Jetzt, in den frühen Jahren der Republik, schaut man am liebsten nach vorne, nicht zurück. Die Behörden sind kalt und abweisend, die Menschen mit sich selbst beschäftigt. Für Empathie mit den zurückkehrenden Emigranten ist da kein Platz. Bald zeichnet sich ein Wirtschaftsaufschwung ab. Häuser werden nicht mehr nur repariert, sondern auch gebaut. Die Verfolgten, die um ihre Würde und ihr verlorenes, enteignetes Hab und Gut kämpfen, stören da nur. Dumpfheit und Engherzigkeit schlagen neue, tiefe Wunden.
Zerstörte Familie
Ursula Krechel beschreibt dies akribisch gründlich, zuweilen mit Hilfe von Originalzitaten aus Akten, sie formuliert sparsam, und dennoch enthüllt ihr Roman ein Familiendrama mit großer emotionaler Wucht. Da sind vor allem Sohn und Tochter, die – vier und sieben Jahre alt – kurz vor Kriegsausbruch von den verzweifelten Eltern mit einem Kindertransport ins rettende England geschickt wurden. Kornitzer und seine nichtjüdische Frau ahnen nicht, dass damit ein unumkehrbarer Prozess der Entfremdung beginnt – an dessen Ende die Familienzusammenführung nach dem Krieg scheitern wird, nach vielen vergeblichen Versuchen, die psychologischen und sprachlichen Barrieren zu überwinden. Es gibt nichts, an das sich so einfach anknüpfen ließe. Vier Menschen, traumatisiert und entwurzelt, können nicht mehr zueinander finden – ein Schicksal, das auch in der Realität damals zehntausenden ihr Überleben unerträglich machte.
Exilland Kuba
Was Ursula Krechels bedrückendem Roman "Landgericht" eine starke Farbigkeit verleiht, ist die Schilderung des Lebens im kubanischen Exil. Hier, im Havanna der Vor-Castro-Zeit trafen die unterschiedlichsten Emigranten aufeinander: politisch Verfolgte, jüdische Flüchtlinge, kommunistische Funktionäre – menschliches Strandgut, das der Krieg in Europa hierher gespült hatte. Kuba war für sie keine Trauminsel in der Karibik, sondern eine schwül-heiße und sehr fremde Welt, eine Durchgangsstation, ein Ort der Vorläufigkeit, ein Warteraum, denn viele hofften, in die USA weiter reisen zu können. Richard Kornitzer aber verbringt zehn endlose Jahre in Kuba. Lernt die Sprache, hält sich mühsam mit einem Hilfsjob in einer Rechtsanwaltskanzlei über Wasser, es ist ein Leben in der Fremde, voller Unwägbarkeiten und Angst – und sehr, sehr fern von allem, was vertraut war.
Zurück in Deutschland, in den Gründungsjahren der Republik, bleibt Richard Kornitzer ein Fremder, einer, der sich nicht anpasst in seinen unerbittlichen und erschöpfenden Kampf um Würde, Respekt, Anerkennung. Ein Kampf, den er nicht überlebt. Er stirbt, bevor er sein Ziel erreicht hat. Ursula Krechel hat mit ihrem großartigen Buch den vielen Menschen, denen es ähnlich ging, ein Denkmal gesetzt – und uns Lesern den Geist der frühen Jahre noch einmal eindringlich vor Augen geführt.