Stabilitätspakt in Gefahr
12. Mai 2004Die derzeitige Diskussion dürfte es eigentlich gar nicht geben. Denn das Regelwerk zum Thema Staatshaushalt ist eindeutig. Im Maastricht-Vertrag von 1992 wurde als Teil der Konvergenzkriterien, die zum Beitritt zur Gemeinschaftwährung Euro zu erfüllen sind, die so genannte Dreiprozentgrenze eingeführt. Sie besagt, dass die Nettokreditaufnahme eines Landes nicht mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen darf. 1997 wurde diese Regel per Beschluss der EU-Staats- und Regierungschefs auf Drängen der damaligen Bundesregierung konkretisiert und verschärft: Ein Frühwarnsystem, die so genannten blauen Briefe, und Strafen in Milliardenhöhe wurden beschlossen, um mögliche Defizitsünder wie Italien zur Haushaltsdisziplin zu zwingen.
Dass der einstige Musterschüler Deutschland selbst 2005 möglicherweise zum vierten Mal in Folge gegen den Stabilitätspakt verstoßen könnte, galt damals als ebenso undenkbar, wie die Aussicht, dass 2004 gleich sechs der zwölf Euro-Länder die Dreiprozenthürde reißen könnten. Gegen die nun eigentlich greifenden Sanktionen wehrten sich vor allem die beiden gewichtigsten Defizitsünder Deutschland und Frankreich mit Erfolg. Der Stabilitätspakt sei kein Automatismus, sondern müsse den wirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden, heißt es nicht erst seit Montag (10.5.2004) aus Berlin und Paris.
Keine Rücksicht auf Dreiprozenthürde
Die zu erwartenden neuen Löcher im Bundeshaushalt aufgrund von Steuerausfällen haben die Diskussion nun nochmals belebt und zugespitzt. Viele Politiker aus Regierung und Opposition fordern angesichts der dramatischen Haushaltslage die Aufnahme neuer Schulden - auch wenn damit die Dreiprozenthürde erneut gerissen würde - und eine Änderung des Stabilitätspaktes.
Wirtschaftsfachleute warnen dagegen im Gespräch mit DW-WORLD vor einer Aufweichung der Kriterien: "Der Stabilitätspakt ist notwendiger denn je, und er müsste eigentlich verschärft werden", konstatiert Thorsten Polleit von Barclays Capital und warnt vor neuen Schulden: "Deutschland läuft bereits in eine gefährliche Situation. Schon heute reicht das Wirtschaftswachstum nicht mehr aus, die Zinsen, die auf die Staatsschulden zu zahlen sind, zu verdienen", sagt der Chefvolkswirt der Investmentabteilung von Barclays Bank.
EU-Kommission muss Sanktionen verhängen
Ähnlich argumentiert Friedrich Breyer, Volkswirtschaftler an der Universität Konstanz und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums: "Der Stabilitätspakt ist wichtig, weil wir nicht dauernd auf Kosten unserer Kinder Schulden machen können." Seiner Auffassung nach ist der Stabilitätspakt in Gefahr. "Die EU-Kommission und der Ministerrat müssen sich endlich dazu durchringen schmerzhafte Sanktionen zu verhängen, sonst ist der Stabilitätspakt tot. Seitdem die EU-Kommission mit ihrem Wunsch Sanktionen zu verhängen an Deutschland und Frankreich gescheitert ist, gibt es auch für andere EU-Staaten keinen Grund mehr sich an die Maastricht-Kriterien zu halten."
Übereinstimmend fordern die Experten Politiker und Bürger zum Umdenken auf. "Wie es scheint, wollen die Politiker und das Wahlvolk das Schuldenaufhäufen nicht beenden, mit der Konsum der Gegenwart auf Kosten der nächsten Generationen finanziert wird", kritisiert Polleit. Breyer ergänzt: "Die Regierung muss aufhören, jede neue Wachstumsschwäche als konjunkturelle Schieflage zu interpretieren. Das ist eine Fehldiagnose. Regierung und Opposition müssen endlich akzeptieren, dass die Krise bei Wachstum und Beschäftigung auf ein tiefgreifendes Strukturproblem zurückzuführen ist."
Weitere Reformen
Statt den Stabilitätspakt aufzuweichen fordert Polleit die staatliche Kreditaufnahme per Verfassungsänderung zu verbieten. Damit könnte der Schuldenmacherei ein wirksamer Riegel vorgeschoben werden, betont der Volkswirt. "Um den Stabilitätspakt künftig wieder erfüllen zu können, muss Deutschland die eingeleiteten Reformen noch viel weiter treiben", lautet der Ratschlag Breyers an die Politiker.