Serben und Kosovaren wollen Staaten arrondieren
7. September 2018Die Unverletzbarkeit der Grenzen zählt zum Tafelsilber des europäischen Staatsrechts. Grenzen sind sakrosankt. Eigentlich. In Bosnien und Herzegowina ist es dennoch geschehen, vor rund 20 Jahren - und zwar konsequenzenlos: die Verschiebung von Grenzen nach ethnisch-kulturellen Kriterien. Die Fakten dafür wurden zuvor mit Gewalt geschaffen. Jetzt schicken sich Serbien und Kosovo an, genau das zu wiederholen. Allerdings mit einem Unterschied: Sie wollen es einvernehmlich unter sich regeln. Noch sind die Tauschobjekte im Vagen, doch der Deal scheint zu stehen. Ein Risikoprojekt - auch für die Großregion.
Ein Plan wie von der Tauschbörse
Seit mehr als sieben Jahren wird verhandelt. Nicht in Belgrad und auch nicht in Pristina - das ließ die erbitterte Feindschaft zwischen den Kriegsgegnern nicht zu. Stattdessen moderiert die EU-Chefdiplomatin Federica Mogherini den Versuch, Unmögliches möglich zu machen.
Der Preis einer Einigung ist pikant. Der eherne EU-Grundsatz, Grenzen nicht zu verschieben, steht gerade auf dem Kopf, denn genau das scheint der Plan zu sein: Gibst du mir das, gebe ich dir das! Es wäre das Gegenteil dessen, was die EU sich seit langem auf die Fahnen geschrieben hat: multinationale Gesellschaften zu stabilisieren und nicht zu filetieren.
Kosovo ist de facto als Neu-Staat in Europa unumstritten - nur wenige EU-Länder, die selbst ethnische Abspaltungsbefürchtungen hegen, haben ihn nicht anerkannt. Für die Abtretung des nördlichen Kosovo an Serbien, in dem knapp 45.000 Serben leben, könnte Pristina das Presovo-Tal in Südserbien als Kompensation erhalten. Ein mehrheitlich albanisch besiedeltes Gebiet.
Doch der Handel mit Terrain entlang ethnischer Bevölkerungsstrukturen ist nur ein Kriterium. Es geht auch um Ressourcen und Kulturdenkmäler. Während das eine wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten weckt, schürt der mutmaßliche Verlust von orthodoxen Kirchen und Klöstern bei den Serben nationale Gefühle. Denn Kosovo, das Amselfeld, gilt als "Wiege des Serbentums". Mythos und Krieg - Die Vorgeschichte
Das Amselfeld, im Mittelalter Zentrum des serbischen Siedlungsraumes, ist im Zuge des osmanischen Vordringens in Südosteuropa Stück für Stück verloren gegangen. Politisch wird der serbische Amselfeld-Mythos immer wieder propagandistisch in Stellung gebracht - am folgenschwersten 1989, als Slobodan Milosevic der damaligen jugoslawischen Provinz Kosovo die Autonomie nahm, 600 Jahre nach der legendären Schlacht auf dem Amselfeld. Es war die Geburtsstunde des Zerfalls Jugoslawiens, dessen Ende mehr als eine Viertelmillion Tote besiegelten.
Als die Waffen in Slowenien, Kroatien und Bosnien und Herzegowina endlich verstummten, eskalierte der kosovarisch-serbische Konflikt im Frühjahr 1998. Die Medien berichteten über systematische Massenvertreibungen der Albaner durch Serben - viele sind dokumentiert, andere waren inszeniert. Ein Verhandlungsmarathon folgte, nach dessen Scheitern griff die NATO aus der Luft ein und bombardierte fast 80 Tage lang serbische Ziele. Viele Zivilisten starben dabei. Als quasi internationales Protektorat erlebte Kosovo eine kurze Übergangsperiode, die am 17. Februar 2008 mit der Unabhängigkeitserklärung in eine neue Ära mündete: in Europas jüngsten Staat.
Risiko Folgeszenarien
Käme es zu einem Gebietstausch zwischen Serbien und Kosovo, wäre eine Lunte auf dem Balkan ausgetreten - zumindest juristisch. Als Folge könnten andere in der Großregion wieder Glut entfachen. Am schwersten einzuschätzen sind die Konsequenzen für Bosnien und Herzegowina. Serbische Hardliner in der Republika Srpska haben ihre Anschlusspläne an Serbien nie beerdigt, nur vorübergehend zur Seite gelegt. Das gilt ebenso für die kroatischen Nationalisten in der West-Herzegowina, die lieber heute als morgen an Kroatien andocken würden. Aber auch Mazedonien und Montenegro sind multinationale Gesellschaften.
Paradoxerweise bringt der politisch wie juristisch umstrittene Gebietshandel beide Staaten näher an die EU heran. Beide gehören zu den sechs West-Balkanländern, die mittelfristig in die Staatenfamilie aufgenommen werden wollen, sich aber noch bewähren müssen. Auch in dieser Frage sind widerstreitende Positionen zu vernehmen. Während Frankreichs Staatschef Macron lieber eine First-Class-EU der "Fortschrittlichen" (EU der zwei Geschwindigkeiten) etablieren möchte und bei Neueintritten auf der Bremse steht, wollen andere "Problemfälle" lieber in der EU auf Kurs bringen, als sie vor den Toren der EU dem Einfluss Chinas, der Türkei oder Russlands auszusetzen. Wer ist dafür, wer dagegen?
Die Liste der Fürsprecher und Kritiker des heiklen Plans ist lang - auf beiden Seiten. Auch Donald Trumps Sicherheitsberater John Bolton soll den Deal inzwischen gutgeheißen haben. Wie lange diese Haltung gültig bleibt, ist in Anbetracht des offensichtlichen europäischen Desinteresses der neuen US-Außenpolitik eher nebensächlich.
Die Bundesregierung - vorneweg Kanzlerin Angela Merkel - ist zurückhaltend. Ebenso die fachlich kompetenten Elder Statesmen Carl Bildt, der frühere Sonderbeauftragte der EU für Jugoslawien und Wolfgang Ischinger, einer der Autoren des bosnischen Dayton-Vertrages. Auch der frühere Top-Balkan-Experte und rechte Hand von Richard Holbrooke in Bosnien, James W. Pardew, spricht sich entschieden gegen den kosovarisch-serbischen Tauschhandel aus. Zu den Kritikern zählen auch Christian Schwarz-Schilling, Ex-Minister im Kabinett Helmut Kohls und 2006/7 Hoher Repräsentant in Bosnien und Herzegowina, sowie sein britischer Vorgänger in gleicher Funktion Paddy Ashton.
Doch der politische Showdown läuft. Am 9. September will Serbiens starker Mann Vucic vor seinen Landsleuten im kosovarischen Mitrovica die "größte Rede seines Lebens" halten. Seine Tauschofferte in der "Höhle des Löwen" ist nebenbei ein Lehrstück über die Metamorphose eines nationalistischen Falken zu einem EU-Europäer. Denn Serbien will in den Brüsseler Club, das hat Priorität. Die Trauer über den Teilverlust der "Wiege des Serbentums" dürfte sich in Belgrad in Grenzen halten.