Starke Frauen organisieren den Wiederaufbau
12. Januar 2013"Wenn es regnet, ist hier schnell alles überschwemmt." Jacqueline Dovielle aus dem haitianischen Dorf Carrefour Dufort zeigt auf einen Mangohain. "Nach dem Wirbelsturm Sandy stand hier alles unter Wasser - doch zum Glück gab es dort keine Zelte mehr", erklärt die sechsfache Mutter.
Das war früher anders: Unter den ausladenden Ästen der Mangobäume standen nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 fast 350 Zelte. Dort fanden die Einwohner des kleinen Dorfes Carrefour Dufort Zuflucht. Fast alle Häuser wurden zerstört oder schwer beschädigt, als in der Region kurz vor 17 Uhr die Erde bebte. Die kleine Ortschaft Carrefour Dufort ist nur wenige Kilometer von Léogâne entfernt, dem Epizentrum des Bebens.
Eigeninitiative fördern
"Als wir nach dem Erdbeben hierher kamen, war die Situation katastrophal“, erinnert sich die freiwillige Helferin Marisol, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte. Sie arbeitet für die dominikanisch-haitianische Frauengruppe Movimiento Mujeres Dominico-Haitianas (Mudha). Die Dominikanerin mit haitianischen Wurzeln hilft zusammen mit anderen Freiwilligen beim Aufbau sozialer Strukturen im Land.
Hilfe sei wichtig, doch langfristig gesehen "löst nur Eigeninitiative einen Teil der Probleme", erklärt sie. Das haben die Freiwilligen der Organisation Mudha bereits in der Dominikanischen Republik gelernt, wo sie sich in den Siedlungen der haitianischen Einwanderer unter anderem für Frauenrechte einsetzten.
Auch in Haute-Miton, wenige Kilometer von Carrefour Dufort entfernt, haben sich viele Frauen mit der Hilfe von Mudha zu weiteren Gruppen zusammengeschlossen. Die Gruppen Mutige Frauen, Wachsame Frauen und Sternglanz haben sich um die Sauberkeit in den Zeltlagern gekümmert und die Wasser- und Lebensmittelversorgung organisiert, damit alle etwas bekommen, nicht nur die Stärksten. Gleichzeitig halfen sie bei der medizinischen Betreuung der Bewohner.
Inzwischen leben die Dorfbewohner nicht mehr in Zeltlagern, sondern in kleinen, aber sturmfesten Holzhäusern. "Unsere Organisationsstruktur hat diese Vereinzelung überdauert", sagt Dorfbewohnerin Fabian Louis. "Wir haben angefangen, den Frauen Kurse anzubieten: über sexuelle Gewalt, Geschlechterfragen, Gesundheit und Selbstbewusstsein."
Von den dominikanisch-haitianischen Helferinnen lernten die Frauen nicht nur, wie sie sich gemeinsam wirksam gegen Männergewalt wehren können. Sie haben auch angefangen, Hygieneartikel und Alltagskosmetika herzustellen, die sie auf den Straßenmärkten verkaufen. Die Freiwilligen von der Organisation Mudha haben auch Kurse in den Bereichen Nähen, Schneidern, Lebensmittelhygiene und Herstellung von Süßwaren angeboten – mit großem Erfolg.
"Das Elend ist geblieben, aber wir haben uns weiterentwickelt"
Die Frauen seien sehr wissbegierig. "Denn die wenigsten haben die Schule abgeschlossen. Viele können nicht richtig schreiben und lesen", erklärt die 29-jährige Lehrerin Sylvince Norvécia. Doch auch gebildete Dorfbewohnerinnen wie sie kommen kaum über die Runden - die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern verdient monatlich weniger als 48 Euro. "Und die Lebensmittelpreise haben sich seit dem Erdbeben verdoppelt bis verdreifacht", beklagt sie.
Außerdem hätten die neuen Kurse die Konkurrenz erhöht - dadurch sei es für die Frauen schwerer, mit dem Gelernten Geld zu verdienen: "Es ist ein Teufelskreis", sagt Helferin Marisol, "weil ich nicht mehr weiß, wie die Leute das überhaupt noch ertragen und was wir noch machen sollen, um effektiv zu helfen."
Fabian Louis sieht die Situation trotzdem positiv. "Das Elend ist geblieben, aber wir haben uns weiterentwickelt. Das Selbstbewusstsein der Menschen - vor allem der Frauen - ist gestiegen." Und das Gelernte eröffne ihnen neue Perspektiven für die Zukunft.
Die Frauengruppen seien auch drei Jahre nach der Naturkatastrophe weiterhin sehr aktiv, sagt Sylvince Norvécia: "Sie mischen sich weiterhin in die Belange der dörflichen Gemeinschaft ein, stellen Forderungen und setzen Dinge selbst um, statt auf die Hilfe des haitianischen Staats zu warten."