Stasi-Akten öffnen oder schließen?
26. September 2011Im Westen waren viele Politiker skeptisch, als im Vereinigungsprozess des noch geteilten Deutschlands DDR-Bürgerrechtler die Öffnung der Stasi-Akten verlangten. Am Ende setzten sich die Befürworter durch. Der erste frei gewählte gesamtdeutsche Bundestag verabschiedete das Ende 1991 in Kraft getretene Stasi-Unterlagen-Gesetz. Seitdem kann jeder Bürger Einblick in seine Akte beantragen. Rund 2,8 Menschen haben das bisher getan.
Was die historisch beispiellose Öffnung der Stasi-Akten in den Staaten Mittelsüdosteuropas und den ehemaligen Sowjet-Republiken gebracht hat, darum ging es auf einer internationalen Konferenz in Berlin am 14. und 15.09.2011. Eingeladen hatten die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, die Südosteuropa-Gesellschaft und die deutsche Stasi-Unterlagen-Behörde. Deren Leiter ist seit März 2011 Roland Jahn. Er hat am eigenen Leib erfahren, wie hemmungslos die Geheimpolizei in das Privatleben der Menschen eingreift.
Roland Jahns achtjährige Tochter wurde überwacht
Der aus Jena in Thüringen stammende Journalist wurde 1977 auf Betreiben der Stasi von der Universität geworfen und landete später im Gefängnis, weil er zunächst gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann protestiert und später Sympathie für die unabhängige polnische Gewerkschaftsbewegung "Solidarnosc" demonstriert hatte. Gegen seinen Willen wurde er 1983 in den Westen abgeschoben.
Und nun ist Jahn der wichtigste Stasi-Aufklärer, gewählt von den Abgeordneten des Deutschen Parlaments. "Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" - so lautet seine offizielle Dienstbezeichnung. Zwar habe er viel gewusst über die Stasi und geahnt, was bei der Akten-Einsicht auf ihn zukommen könnte, erzählt Jahn 20 Jahre später. Aber es dann schwarz auf weiß zu sehen, sei ein Moment gewesen, "wo mir doch ein Schauer über den Rücken lief".
Da habe er plötzlich die Skizze seiner Wohnung in West-Berlin gesehen. Es sei genau aufgezeichnet gewesen, wie die Möbel gestanden hätten. Das Schlimmste sei ein Bericht über den Schulweg seiner achtjährigen Tochter gewesen. Da habe er sich gefragt, was die Stasi noch vorgehabt habe, erinnert sich Jahn an die schockierende Situation. Bis vor wenigen Monaten beschäftigte sich der 58-Jährige als Fernseh-Journalist beim Polit-Magazin "Kontraste" immer wieder mit der Geschichte, die auch seine ganz persönliche Geschichte ist.
Helmut Kohl klagte gegen Einsicht in seine Akte
Dass der Umgang mit dem ungeheuren Stasi-Nachlass in geordneten Bahnen verlaufen sollte, dafür setzte sich Jahn von Beginn an ein. Deshalb habe er auch das Anliegen des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl unterstützt, der weitestgehend erfolgreich gegen die Öffnung ihn betreffender Akten geklagt hatte.
Roland Jahns Vorgängerin im Amt des Bundesbeauftragten, die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, empfand die juristische Niederlage zumindest teilweise als Einschränkung ihrer Arbeit. Jahn hingegen hält das Urteil uneingeschränkt für richtig und wichtig.
Er selbst habe 1990 "noch ganz wild in die Akten geguckt". Für diese Möglichkeit sei er auch dankbar gewesen, gibt Jahn zu. Aber ihm sei sofort klar geworden, dass für die Nutzung der Akten eine rechtsstaatliche Lösung nötig sei. Der wichtigste Grundsatz sei gewesen, über das Wirken der Staatssicherheit frei zu informieren und den Datenschutz der Betroffenen zu gewährleisten.
Stasibelastete Mitarbeiter sollen versetzt werden
Es sei nicht das Anliegen der friedlichen Revolution gewesen, "dass alle alles sehen", meint Jahn. Manche interpretieren das sogenannte Kohl-Urteil anders: dass es im Interesse jener im Westen sei, die womöglich etwas über ihre Vergangenheit zu verbergen hätten. Der Fall Kohl zeigt exemplarisch, wie umstritten der Umgang mit den Stasi-Unterlagen in Deutschland war und weiterhin ist. Mehrmals wurde das Gesetz novelliert.
Bewerber für hohe und höchste Ämter in bestimmten staatlichen Positionen sollen auch künftig auf eine mögliche Stasi-Tätigkeit überprüft werden. Und Roland Jahn ist es ein besonderes Anliegen, rund 45 noch in seiner Behörde angestellte ehemalige Stasi-Leute in andere Dienststellen zu versetzen. Ihre Beschäftigung in seinem Haus sei ein "Schlag ins Gesicht der Opfer", begründet er seine Initiative, die politisch und juristisch durchaus umstritten ist.
Das wiedervereinigte Deutschland hatte es am leichtesten
In Bulgarien, so war auf der Berliner Tagung über das Erbe kommunistischer Geheimpolizeien zu erfahren, dürfen ehemalige Stasi-Leute in der für die Aufarbeitung verantwortlichen Institution nicht beschäftigt werden. Dass die Aufarbeitung insgesamt deshalb konsequenter erfolgt, darf daraus indes keinesfalls geschlossen werden. Eher trifft wohl das Gegenteil zu.
Wobei die Politologin Anneli Ute Gabanyi von der Südosteuropa-Gesellschaft davor warnt, unzulässige Vergleiche zu ziehen. Die Aufarbeitung mit Hilfe von DDR-Bürgerrechtlern sei im vereinten Deutschland in einem staatlichen Umfeld realisiert worden, "in dem die demokratischen Institutionen schon eine lange Tradition hatten und wo man sich auf diese Institutionen verlassen kann", betont Gabanyi den entscheiden Unterschied der Bundesrepublik zu den anderen Staaten.
Weil mit Ausnahme Deutschlands in den Transformations-Staaten des früheren Ostblocks die Eliten nicht alle von heute auf morgen ausgetauscht werden konnten, dauerte es auch länger, bis die Stasi-Akten geöffnet wurden. Am schwierigsten ist die Situation offenbar in den ehemaligen Sowjet-Republiken. So berichten unter anderem Vertreter aus der Ukraine und Lettland von den Problemen oder gar der Unmöglichkeit, an Unterlagen in Moskauer Zentral-Archiven zu gelangen. Der lange Arm des früheren KGB dürfte dabei die entscheidende Rolle spielen.
Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit dauerte auch lange
Aber auch in einem Land wie Ungarn ist die Aufarbeitung nach Einschätzung Kristián Ungvarys vom Budapester Institut für die Geschichte der ungarischen Revolution 1956 längst nicht so weit, wie sie sein könnte. Versuche, die Frage nach der Verantwortung zu stellen, seien in seinem Land kläglich gescheitert. Für bezeichnend hält es Ungvary, dass praktisch niemand der Stasi-Verantwortlichen verurteilt worden sei.
In Polen gab es ebenfalls Versuche von interessierter Seite, die Öffnung der Geheimpolizei-Akten und damit die mögliche strafrechtliche Ahndung von Stasi-Verbrechen zu verhindern. So wie überall war es zudem teilweise gelungen, brisantes Material rechtzeitig zu vernichten. Krysztof Persak vom Warschauer Institut für Nationales Gedenken ist froh, dass sich die alten Kräfte letztlich nicht auf Dauer durchsetzen konnten. Natürlich seien Menschen auch gezwungen worden, mit der Stasi zu kooperieren. Aber viele seien eben auch der Versuchung in dem Glauben erlegen, dass alles geheim bleibe. "Es war eine Art Pakt mit dem Teufel", sagt Persak. Und diesen Pakt sollte man nicht noch legitimieren, in dem die Akten unter Verschluss bleiben. Denn das wäre ein nachträglicher Sieg der kommunistischen Geheimpolizei, so Persak.
Europäisches Netzwerk hilft Forschern
Im Jahre 2008 hat sich in Berlin das Europäische Netzwerk der Stasi-Unterlagen-Behörden gegründet. Der Zusammenschluss soll den Erfahrungsaustausch verbessern. Der Ungar Kristián Ungvary findet die seit drei Jahren existierende Einrichtung hilfreich. Man solle aber auch nicht zu viel von ihr erwarten, meint er. Es sei zwar nützlich für ihn als Forscher, aber leider Gottes könne das Netzwerk nicht alle die politischen Aufgaben übernehmen, die noch zu erledigen seien. Damit meint Ungvary, dass die Geschichte der kommunistischen Geheimpolizeien und ihre Aufarbeitung mehr ist, als eine Beschäftigung für Forscher und Wissenschaftler.
Ihm wie allen anderen Teilnehmern an der internationalen Tagung in Berlin kommt es vor allem darauf an, dass sich die Gesellschaften in den einzelnen Ländern selbstkritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Dafür fehle ihnen aber mitunter die Reife, bilanziert Ungvary gut 20 Jahre nach der friedlichen Revolution. Dass sich daran noch etwas ändern könnte, auch in seinem Heimatland Ungarn, darauf hofft er weiterhin. Im Westen Deutschlands habe die ernsthafte Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit schließlich auch erst mit den Protesten der 1968er Generation begonnen.
Autor: Marcel Fürstenau
Redaktion: Hartmut Lüning