Statt Brexit: Neuwahlen vor Weihnachten
30. Oktober 2019Die letzten Wahlen im Dezember gab es in Großbritannien vor knapp 100 Jahren - und sie endeten in einem Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse. Die Bürger zu dieser Jahreszeit an die Wahlurnen zu bitten, gilt als Risiko: Es ist meist kalt und nass, außerdem freuen sich die Briten auf feucht-fröhliche Weihnachtsfeiern und wollen von Politik nichts hören. Da kommt ein aggressiver Brexit-Wahlkampf zur falschen Zeit. Führt schlechte Laune also zu einer niedrigen Wahlbeteiligung oder werden einzelne Kandidaten den Zorn der Wähler abbekommen? Niemand weiß es.
Boris Johnson in der Sackgasse
Nach drei Monaten im Amt war Boris Johnson als Regierungschef bereits am Ende. Abstimmungen im Unterhaus verlor er in Serie - es war klar, dass er weder für den Brexit noch für normales Regierungshandeln eine Mehrheit hatte. Für ihn blieb in dieser Situation nur der Ruf nach Neuwahlen, denn den Weg zu Brexit-Kompromissen versperren ihm wie schon seiner Vorgängerin Theresa May die Hardliner in den eigenen Reihen.
Und ein zweites Referendum zur Lösung der Brexit-Krise lehnt die konservative Partei grundsätzlich ab. Zu groß ist die Gefahr, dass die Briten es sich anders überlegen würden und damit ein Projekt scheiterte, das zum Hauptanliegen und neuen Markenkern der Tories geworden ist.
Schon jetzt ist klar, dass der Wahlkampf bitterer und vergifteter sein wird als alle vorherigen und das tief gespaltene Land am Ende noch weiter auseinander reißt. Der Premier wird versuchen daraus Kapital zu schlagen und die Karte spielen: "Wir stehen für das Volk gegen die nutzlosen Eliten und Parlamentarier". Diese Rhetorik mit beispiellosen Angriffen auf das Unterhaus übt er schon seit Wochen, was zu heftigen verbalen Schlammschlachten führte.
Wie weit Johnson damit Wähler ansprechen kann, die nicht aus der mit Brexit-Ressentiments aufgeladenen harten Tory-Anhängerschaft stammen, ist unklar. Schließlich muss er damit vor allem die Brexit-Wähler in traditionellen Labour-Wahlkreisen für sich gewinnen, wenn er neue Mehrheiten sucht. Werden sie sich aber vom Eton- und Oxford-Absolventen Boris Johnson ködern lassen, wenn er als "Wir, das Volk" daher kommt? Es ist möglich, dass die populistische Masche funktioniert, aber es ist ein Risiko. Denn auf der anderen Seite werden sich gemäßigte Konservative von der Partei abwenden und die Liberaldemokraten wählen. Und frustrierte Labour-Stammwähler könnten auch gleich zur Brexit-Party wandern.
Auf der Habenseite der Konservativen steht, dass Boris Johnson als guter Wahlkämpfer gilt und in den Umfragen seit Wochen um gut zehn Punkte vorn liegt. Andererseits galt das 2017 auch für Theresa May, die dann jedoch im Wahlkampf hölzern und unsicher wirkte und ihre Mehrheit verlor. Die Ausgangslage der Tories ist also ziemlich gut, aber die Parteienlandschaft ist auch in Großbritannien inzwischen gespaltener als noch vor zwei Jahren und das Mehrheitswahlrecht macht Prognosen besonders schwierig.
Labour ist in schwacher Verfassung
In der Nacht von Montag auf Dienstag hatte sich die Führung der Labour-Party plötzlich zu einer Richtungsänderung entschlossen. Am Ende waren Jeremy Corbyn die Ausreden ausgegangen, um Neuwahlen weiter aufzuschieben, denn nach der Verlängerung der Brexit-Frist durch die EU war ein No-Deal Brexit effektiv vom Tisch. Allerdings ist Corbyn der unbeliebteste Oppositionsführer und Labour-Chef seit Menschengedenken, was nicht gerade zu einem Neuwahl-Abenteuer einlädt.
Viele Abgeordnete hatten denn auch bis zuletzt dagegen argumentiert, denn sie fürchten den Verlust ihrer Mandate. Außerdem glauben sie, dass Boris Johnson sich immer weiter entzaubert hätte, je länger er hilflos und ohne Mehrheit als Premier hätte agieren müssen. Viele Labour MPs stimmten denn auch am Ende gegen die Wahlen, obwohl Johnsons Antrag trotzdem noch mit einer Zweidrittelmehrheit durchging.
Labour wird nicht nur durch seinen schwachen Parteiführer behindert, sondern auch durch interne Kämpfe zwischen Moderaten und Linken sowie durch eine unklare Haltung zum Brexit. Jeremy Corbyn, im Herzen ein verkappter Brexiteer, versuchte den Tiger zu reiten und beiden Seiten zu gefallen. Was dazu führte, dass er eine Politik des entschiedenen sowohl als auch verfolgt. Er will sowohl einen neuen, viel besseren Brexit-Deal mit der EU aushandeln, mit Zollunion und allem Lametta, als auch die Bürger in einem zweiten Referendum darüber abstimmen lassen. Diese diffuse, schwer vermittelbare Haltung dürfte im Wahlkampf ein Klotz am Bein der Labour-Kandidaten werden.
Die Partei wird sowohl in ihren traditionellen Hochburgen Wähler an Tories und die Brexit-Partei verlieren als auch im liberalen Milieu der großen Städte Pro-Europäer an die Liberalen abgeben. Von allen möglichen Konstellationen gilt es am unwahrscheinlichsten, dass die Labour-Party eine Mehrheit erringt. Und das, obwohl sie auf eine extrem geschwächte Regierungspartei trifft. Die denkbare Stärke der Tories wird durch die extreme Schwäche der größten Oppositionspartei erst möglich gemacht.
Der Wahlkampf steht im Zeichen den Brexit
Ganz begeistert von ihren Chancen stürzen sich die Liberalen in den Wahlkampf. Sie haben eine klare Botschaft und die heißt: "Wir wollen keinen Brexit!" Damit gelten sie für viele pro-europäische Wähler derzeit als einzige Alternative und klare Option gegenüber den bisher dominierenden Altparteien. Da ihr sonstiges Wahlprogramm auf die politische Mitte zielt und sie ein paar attraktive Seitenwechsler von Labour und den Tories in ihren Reihen haben, rechnen sie sich mit rund 20 Prozent in den Umfragen eine ordentliche Zahl von Sitzen im nächsten Unterhaus aus.
Boris Johnson seinerseits spricht zwar auch von sensationellen Programmen zur Modernisierung von Krankenhäusern, Schulen und sonstiger Infrastruktur - aber seine Versprechen von Milliardeninvestitionen werden nur begrenzt ernst genommen. Im Prinzip geht es um den Brexit, der die Basis für seinen populistischen "Wir gegen die Eliten"-Wahlkampf bietet. Es geht in diesem politischen Kampf um Identität, Nationalismus und tiefes Ressentiment gegen die andere Seite.
Der frühere britische EU-Botschafter Ivan Rogers, der sich nach seinem Rückzug 2017 als treffsicherer Brexit-Prophet erwiesen hat, mutmaßte vor wenigen Tagen bei einer Veranstaltung, dass dieser Wahlkampf zehn Jahre Tory-Herrschaft begründen würde. Auf der anderen Seite steht Professor John Curtice, seit Jahrzehnten Wahl-Orakel in Großbritannien mit hoher Trefferquote, der vor voreiligen Schlüssen warnte. Eine Rekordzahl von Abgeordneten im nächsten Unterhaus werde nicht zu den beiden großen Parteien gehören. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass weder Tories noch Labour eine eigene Mehrheit erringen und auch das nächste Parlament wieder eine Minderheitsregierung oder eine Art Koalition hervorbringen könnte. Das wäre allerdings die ultimative Ironie der Geschichte. Auf jeden Fall war seit langem keine britische Wahl so spannend und so schicksalhaft wie diese.