"Steelie Neelie" im Steuerparadies
22. September 2016Wer aus Brüssel erinnert sich nicht an sie: Die exakt lackierten Fingernägel akkurat um das Rednerpult gelegt, den Rücken durchgedrückt, Schultern zurück. Die kerzengerade Haltung der zierlichen Person hatte stets etwas Preußisches. Dazu schwere Goldringe um die schlanken Finger der Neelie Kroes.
Als "stählerne Neelie" macht die Kommissarin großen Konzernen Beine
Als Wettbewerbskommissarin war sie es, die multinationale Konzerne wie Microsoft als Erste an den Wickel kriegte. Damals, als sie den Software-Riesen zu rekordverdächtigen Geldbußen verdonnerte, musste man unweigerlich schmunzeln beim Gedanken an Bill Gates, von so einem Persönchen politisch verhauen zu werden. Ihr Ruf als eiserne Verhandlungsführerin brachte ihr in Brüssel schnell den Spitznamen "Steelie Neelie", die "stählerne Neelie" ein.
Und jetzt das: Die ehemalige EU-Wettbewerbskommissarin hat laut Recherchen der "Süddeutschen Zeitung" eine Briefkastenfirma auf den Bahamas unterhalten. Als Direktorin. Autsch. Zwar sind solche Gesellschaften per se nicht verboten. Allerdings nur, solange sie nicht zur Steuerhinterziehung oder Geldwäsche genutzt werden. Im Falle von Kroes verletzt die pure Existenz solch einer Firma die Pflicht der Offenlegung. Jeder EU-Kommissar unterliegt ihr während seiner Amtsausübung. Auch eine stählerne Neelie. Wer sich darüber hinwegsetzt, verstößt gegen den Verhaltenskodex der EU-Kommission. Diese äußert sich auffallend zurückhaltend. Angesprochen auf die ehemalige Mitarbeiterin und Vize-Präsidentin der Behörde heißt es knapp:
"Wir haben sehr strenge Regeln, aber selbst die strengsten Regeln können solche Fälle nicht verhindern." Weiter betont EU-Sprecher Margaritis Schinas, hätte die EU-Kommission "keinen geheimen Polizeidienst, der Kontrollen auf den Bahamas durchführt". "Wir müssen unseren Mitarbeitern vertrauen, dass ihre Angaben vollständig sind."
Grenzgängerin zwischen Wirtschaft und Politik
Die Karriere der Neelie Kroes glich schon immer einem Grenzgang zwischen Wirtschaft und Politik. Die Liste ihrer Posten ist lang. Unter anderem lobbyierte sie für den Rüstungskonzern Lockheed Martin; nach ihren EU-Spitzenjobs wartete sie artig die Karenzzeit von achtzehn Monaten ab, um direkt danach als exzellent verdrahtete Ex-Politikerin zum SAP-Konkurrenten Salesforce in der freien Wirtschaft anzuheuern.
'Brave Mädchen schreiben keine Geschichte': So wie der Titel ihrer Biographie, so hielt sie es auch mit ihren Ämtern: Ihre diversen Seitenwechsel vor und nach ihren EU-Spitzenjobs - sie alle waren im politischen Brüssel kein Geheimnis. Sie waren pikant, ja. Geschmäckle sowieso. Aber es war legal.
Ihr bislang verheimlichter Posten als Direktorin einer Briefkastenfirma bringt daher eine neue Qualität in ihre berufliche Biographie: Für die europäische Ombudsfrau Emily O'Reilly hat die Ex-Kommissarin und ehemalige Vize-Präsidentin der EU-Kommission damit klar gegen die EU-Regeln verstoßen, da sie diese Funktion "während ihrer aktiven Amtsführung als EU-Kommissarin" innegehabt hätte.
Die gebürtige Niederländerin Neelie Kroes galt seit jeher als gut vernetzt mit der privaten Wirtschaft. Furcht vor großen Konzernen war der Unternehmer-Tochter stets fremd. Auch deshalb machte sie als politische Erscheinung Spaß in einer EU, die ansonsten einen Papiertiger nach dem anderen verabschiedete. Anders als bei machtlosen Ressortkollegen war auf sie Verlass: Immer wenn die schmale Niederländerin mit exzentrischem Chanel-Kostüm ans Pult der EU-Behörde trat, konnte man sicher sein, dass es irgendeinem auf der Welt ordentlich an die Jacke ging.
EU-Kommission - Tricksereien, schlechter Geschmack und fehlende Sensibilität
Umso ernüchternder die jüngsten Enthüllungen: Von ihrem Anwalt heißt es lapidar, es handele sich um "ein Versehen". Kroes übernehme die "volle Verantwortung" und werde EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker darüber informieren.
"Er hat ihr heute Morgen einen Brief geschrieben und bittet darin um Aufklärung", beschreibt EU-Sprecher Schinas die aktuelle Gemengelage in der EU-Kommission. Brief hin oder her, für Juncker kommen die jüngsten Vorkommnisse zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Die Kommission steht unter Beschuss. Schwer angeschlagen durch den Brexit versucht das Juncker-Team mühsam, wieder Oberwasser zu bekommen. Nicht als industrienahe EU-Behörde zu gelten. Mehr Glaubwürdigkeit. Nah am Bürger. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Tricksereien, schlechter Geschmack und politisch fehlende Sensibilität holen die EU-Behörde immer wieder ein und überschatten die durchaus ambitionierte Politik derselben. Gerade hatte EU-Chef Juncker seinen hausgemachten Lux-Leaks-Steuer Skandal so halbwegs abgeschüttelt, bestimmte die Berufswahl seines Vorgängers die Schlagzeilen aus Brüssel. Nach zehn Jahren als oberster Chef der EU-Kommission wechselte der Portugiese José Manuel Barroso unter allgemeinem Kopfschütteln stante pede zur US-Bank Goldman Sachs. Ihm entzog Juncker symbolträchtig die Würden eines ehemaligen Präsidenten: In Zukunft, so der amtierende Präsident der EU-Kommission, werde sein Vorgänger nicht mehr durch das Protokoll empfangen. Als politischer Berater der US-Bank müsse er sich künftig "ganz normal am Haupteingang melden, wie die anderen Lobbyisten".
Die Empörung schien echt. Doch jetzt auch noch Neelie Kroes. Ob auch sie künftig nur noch am Dienstboteneingang vorsprechen darf, ließ die EU-Kommission offen.