"Eine Bewährungsprobe für die Demokratie"
31. Oktober 2020DW: Herr Bundespräsident, Sie waren gerade fast zwei Wochen in Quarantäne. Wie geht es Ihnen danach?
Frank-Walter Steinmeier: Mir ging es gut, mir geht es gut, ich war nicht infiziert. Aber ich kann nach den 14 Tagen sagen: Wer die Quarantäne irgendwie vermeiden kann, sollte es tun. Es ist ziemlich öde. Ich freue mich, dass ich Menschen wieder von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen darf.
In Frankreich ist es erneut zu grausamen Verbrechen gekommen. Wie erklären Sie sich, dass so etwas mitten in Europa passiert?
Natürlich sind unsere Gedanken zuallererst bei den Angehörigen. Denen gilt unser ganzes Mitgefühl, aber es kommt jetzt drauf an, dass wir in ganz Europa nicht nur in Frankreich, uns diesem Akt brutale Gewalt und auch den islamistischen Motiven, die dahinterstehen, entgegenstellen. Das sollten wir tun. Das haben viele auch in Europa getan. Und es ist gut, dass auch Repräsentanten islamischer Staaten sich dieser Verurteilung angeschlossen haben.
Befürchten Sie, dass auch in Deutschland zu Anschlägen kommen kann?
Es gab zuletzt einen Anschlag in Dresden mit einem Verletzten und einem, der gestorben ist, nach diesem Anschlag. Insofern können wir nicht so tun, als seien wir hier gefeit vor solchen Angriffen. Im Gegenteil, wir müssen wachsam bleiben. Die Sicherheitsbehörden sind es auch.
Aber vor allem dürfen wir uns in unseren demokratischen Gesellschaften nicht auf einen Kurs festlegen, der Hass und Ausgrenzung zum Maßstab staatlichen Handelns macht. Akzeptanz, Respekt voreinander gehört in unseren Gesellschaften dazu. Insofern - das Entgegenstellen gegenüber solchen Akten brutaler Gewalt, islamistischen Motiven ist das eine, aber zu versuchen, die Offenheit unserer Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ist die andere Herausforderung.
Welche Rolle bei der Eskalation spielten die verbalen Angriffe von Präsident Erdogan?
Das ist überhaupt nicht hilfreich, gar keine Frage. Und ich hoffe, dass sich durch diese Eskalation, die wir festgestellt haben, in der spürbar eskalativen Rhetorik, dass sich nicht einige von möglichen Tätern ermutigt fühlen.
Herr Steinmeier, der Lockdown steht in Deutschland vor der Tür. Haben wir die Kontrolle verloren?
Wir sind jedenfalls in einer ganz kritischen Phase. Das gilt für viele Staaten in Europa, auch für Deutschland. Die Infektionszahlen steigen täglich und erreichen neue Rekordwerte. Das ist jetzt eine Bewährungsprobe auch für die Demokratie in Deutschland. Entweder gelingt es uns, mit unseren Möglichkeiten die Infektionen signifikant einzudämmen, oder aber die Lage gerät außer Kontrolle. Ich bin eigentlich zuversichtlich.
Mit den harten Maßnahmen stellt sich die Frage - was wiegt mehr: die Gesundheit der Bevölkerung oder die Freiheitsrechte?
Ich bin davon überzeugt, dass die meisten Menschen wissen, dass diese Belastung jetzt notwendig ist, damit wir nicht eines erleben, was in einigen Nachbarländern erlebt worden ist, dass die Krankenhäuser überlaufen, dass hochinfektiöse Patienten auf den Fluren liegen oder gar nicht mehr aufgenommen werden. Die Überbelastung des Gesundheitssystems zu vermeiden - das ist jetzt das Zentrale. Und ich glaube, das verstehen die Menschen auch.
Dennoch - der Widerstand gegen die Maßnahmen wächst in ganz Europa, auch in Deutschland. Treibt die Politik nicht immer mehr Menschen in die Arme von Verschwörungstheoretikern oder gar Radikalen?
Das ist natürlich völlig klar. Je länger eine solche Pandemie dauert, umso größer wird die Belastung und umso größer die Kritik an solchen Einschränkungen. Aber die Zahl derjenigen, die Einschränkungen für richtig halten oder sogar schärfere fordern, die wächst im Augenblick schneller als die Zahl der Kritiker.
Insofern: Das, was mir Sorgen macht, ist die Schärfe, mit der diese Auseinandersetzung geführt wird. Da besteht kaum noch eine Brücke zwischen denjenigen, die sagen, ja, das ist richtig - und denjenigen, die entweder Corona als Gefahr ignorieren oder aber Einschränkungen völlig ablehnen.
Wie will man diese Menschen, die für den Dialog vielleicht jetzt verloren gehen, zum demokratischen Diskurs zurückholen?
Jemanden zum demokratischen Diskurs zu bewegen, geht nicht durch Zwang. Sondern Politik muss sich immer wieder selbst die Pflicht auferlegen, transparent zu erklären, was sie tut und warum welche Maßnahmen notwendig sind. Ich habe den Eindruck, dass mit den steigenden Infektionszahlen auch diejenigen unter Druck geraten, die sagen, das ist doch nur eine normale Grippe und was macht ihr in der Politik so einen Aufstand.
Herr Bundespräsident, in wenigen Tagen wählen die USA einen neuen Präsidenten. Welche Bedeutung kommt dieser Wahl zu?
Das ist natürlich eine Bedeutung zunächst mal für die USA selbst. Aber es ist eine Wahl mit globaler Wirkung. Es ist eine Entscheidung, bei der ich hoffe, dass im Anschluss daran - unabhängig davon, wer gewinnt - die USA wieder die Fähigkeit entwickeln, eine gemeinsame Idee von der Zukunft ihres Landes zu haben.
Was für uns als Europäer wichtig ist, auch zu verstehen, dass das europäische Projekt, dass europäische Integration und Kooperation etwas ist, was wir in dieses transatlantische Verhältnis investieren. Das war zuletzt nicht der Fall, aber ich hoffe mir, dass neues Verständnis für Europa wieder wächst.
Angenommen, es kommt zu einem Wechsel im Weißen Haus. Wird dann alles wieder gut im transatlantischen Verhältnis?
Ich glaube, wir Europäer und gerade wir Deutschen müssen uns zwingen, einen realistischen Blick auf die veränderte Lage, in der auch die USA ist, zu werfen. Mit dem Ende des Kalten Krieges, mit der Feststellung, dass Russland nicht mehr die erste Bedrohung für die USA ist, sondern möglicherweise die Sicherheitsgefahren aus anderen Ecken der Welt für die USA stammen, hat sich natürlich auch dort eine Neuorientierung ergeben. Diese politische Neuorientierung, oder sagen wir diese Fokussierung auf China und Ostasien, das ist etwas, was vor Trump begonnen hat, allerdings nicht mit der Aggressivität, mit der jetzt die Auseinandersetzung mit China gesucht wird.
Was bedeutet das für die deutsche Politik?
Nach meiner festen Überzeugung gehört es dazu, zunächst mal einmal zu erkennen, dass unser nationales Interesse Europa ist. Aber vielleicht hat gerade diese Corona-Krise gezeigt, wie wichtig europäische Zusammenarbeit ist. Es gab dazu einen wirklich, vielleicht von vielen unerwarteten, aber mutigen Beschluss der europäischen Regierungschefs im Juli über einen doch ansehnlich großen, europäischen Wiederaufbaufonds.
Ich sehe, dass es gemeinsame europäische Bemühungen gibt, etwa bei der Impfstoffentwicklung, Impfstoffherstellung, Impfstoffverteilung, dass auch in dieser Corona-Krise grenzüberschreitende Hilfen stattfinden sollen, wenn Krankenhäuser im Grenzbereich überlaufen und andere Kapazitäten auf der anderen Seite noch zur Verfügung stehen. Das heißt, Europa lernt auch in der Krise und ich hoffe, dass diese Lerneffekte erhalten bleiben. Aber in Europa investieren, das ist eine der Aufgaben, vor der ich Deutschland immer wieder sehe.
Das Verhältnis zu Russland ist auf dem Tiefpunkt, zuletzt seit der Vergiftung von Alexej Nawalny. Sind Sie besorgt?
Ich bin besorgt wegen der Vergiftung Nawalnys, aber meine Besorgnis reicht länger zurück. Natürlich knüpfe ich an, an der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, bei der ich die Befürchtung habe, dass in Moskau nicht richtig verstanden ist, welchen Schock das in Europa - und nicht nur in Osteuropa - ausgelöst hat. Was dann folgte, hat die Dinge nicht zum Besseren verändert, dass Oppositionelle in Russland zunehmend unter Druck geraten, dass manche um ihr Leben fürchten müssen, es verloren haben, bis hin zum Tiergarten-Mord und Nawalny.
Das hat uns in eine Situation geführt, in der die Entfernung voneinander ganz ohne Zweifel gewachsen ist. Diesen Prozess der Entfremdung dürfen wir nicht einfach laufen lassen. Unsere Geschichte in Europa, aber auch die geografische Lage mit Russland als Nachbarn macht es erforderlich immer wieder nach Möglichkeiten zu suchen, dem auch etwas entgegenzusetzen. Aber man kann das nicht einseitig verändern, sondern dazu gehört auch der Wille und die Einsicht der russischen Seite.
Es klingt, als ob es die zu wenig gebe?
Die gibt es aus meiner Sicht zu wenig, ja.
Wenn wir uns die Entwicklung in den USA, in Russland und in China anschauen - der Ruf nach der Führungsrolle Deutschlands wird immer lauter. Zu wie viel ist Deutschland bereit?
Wir brauchen in Deutschland ein Verständnis dafür, dass dieses Land - Deutschland - in Europa wichtig ist. Wenn wir in Europa investieren, werden es auch andere tun. Wir haben auch aufgrund unserer geografischen Lage und Geschichte die Aufgabe, manche Brücken zu bauen, die es zwischen Ost und West in Europa notwendigerweise zu bauen gibt. Über manche Missverständnisse und Risse hinweg, die es in dem letzten Jahr gegeben hat. Aber was noch wichtiger ist, wir müssen auch verstehen, dass wir auch sicherheitspolitisch investieren müssen in Europa. Das bedeutet zum einen Europa auch stärker zu machen; und das bedeutet zum anderen auch den europäischen Pfeiler, wie ich jüngst gesagt habe, in der NATO deutlich zu stärken. Beides ist notwendig.
Herr Bundespräsident, nächstes Jahr haben wir Bundestagswahlen in Deutschland. Damit geht auch die politische Ära von Angela Merkel zu Ende. Verliert Deutschland mit der Bundeskanzlerin nicht auch an Einfluss, in Europa und international?
Das ist zunächst mal ganz natürlich so, dass, wenn jemand nach so vielen Jahren im Regierungsamt die Möglichkeit hatte, politische Erfahrung zu sammeln, aber was noch wichtiger ist, ein politisches Netzwerk in allen europäischen Staaten und weit darüber hinaus auszubauen. Wer immer ein Nachfolger wird, fängt anders an. Insofern sind das große Fußstapfen, in die ein Nachfolger da hineintritt, aber das bedeutet nicht, dass dem Nachfolger oder einer Nachfolgerin die Möglichkeiten versagt bleiben, einen ähnlichen Einfluss über die Jahre hinweg sich zu erarbeiten. Aber das ist nicht ganz einfach, die Fußstapfen sind groß.
Herr Bundespräsident, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Rosalia Romaniec.