Sterben lassen
25. November 2004Mehr als sechs Millionen Deutsche haben bereits ihren Willen zur medizinischen Versorgung beim Lebensende verfasst. Auf diese Zahl schätzt das Justizministerium die deutschen Patientenverfügungen. Ein Formular dazu gibt es im Schreibwarenladen. Das Thema beschäftigt in dieser Woche (24./25.11.) auch den Nationalen Ethikrat. Dessen stellvertretender Vorsitzender Eckhard Nagel, Mediziner und Geisteswissenschaftler, sagte im Interview mit DW-WORLD: "Es ist uns wichtig noch mal zu hinterfragen, was wir eigentlich mit Selbstbestimmung und Patientenautonomie meinen." Viele Fragen zum Sterben seien nicht mit juristischen Mitteln zu beantworten. "Regelungsbedarf besteht unserer Ansicht nach nicht nur bei der passiven Sterbehilfe. Unterstützungsbedarf gibt es auch in vielen anderen Bereichen wie der Sterbebegleitung", so Nagel.
Sterbehilfe in Deutschland nur "passiv"
Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland nach wie vor verboten - im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern. Bislang ist die Selbstbestimmung am Lebensende rechtlich kaum geregelt. Der Bundesgerichtshof hat Passive Sterbehilfe bislang akzeptiert. Das bedeutet: Liegt ein Patient im Sterben, darf der Arzt auf seinen Wunsch Maschinen abstellen, die künstliche Ernährung oder auch Medikamente absetzen. Justizministerin Zypries hat inzwischen den Entwurf für ein Gesetz zur Patientenverfügung vorgelegt, mit dem aus der bisherigen Duldungs-Praxis ein verbindliches Regelwerk werden soll. 2006 soll es in Kraft treten, doch Politiker verschiedener Parteien kritisieren den Entwurf genauso wie die Bioethik-Enquete-Kommission des Bundestages. Der Vorwurf: Das Gesetz legalisiere in seiner jetzigen Form die Aktive Sterbehilfe. Ein Grund für den Ethikrat die Selbstbestimmung nun zu diskutieren. Nagel sagte am Rande der Tagung in Münster: "Ich habe den Eindruck, dass gerade im Hinblick auf die Begründung hier viele Mitglieder des Ethikrates den Gesetzesentwurf mittragen können."
Europa: Selbstbestimmter Tod ist kein Menschenrecht
Im April 2002 klagte die Britin Dianne Pretty vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie war vom Hals an gelähmt, litt unter psychischen Qualen und wollte, dass ihr Mann sie vergiftet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lehnte ab: Ein Menschenrecht auf einen selbst gewählten Tod gibt es nicht. Kirchenvertreter und Ärzte aus verschiedenen Ländern begrüßten den Entschluss. Pretty ist inzwischen an ihrer Nervenkrankheit gestorben.
Gegenbeispiel Niederlande
Ihr Recht hätte die Frau in den Niederlanden bekommen. Das Land hat 2001 als weltweit erstes die Aktive Sterbehilfe unter strengen Bedingungen erlaubt. Wenn der Kranke unerträglich leidet, bewusst und mehrfach um Sterbehilfe bittet, darf ein Arzt ihm eine Giftspritze verabreichen. Die Auswirkungen sind deutlich: Bei über 40 Prozent aller Todesfälle spielten medizinische Entscheidungen eine Rolle. 3000 bis 4000 Niederländer sterben laut Niederländischem Statistikamt jährlich durch Euthanasie - deutlich mehr als vor der Gesetzesänderung.
Noch weiter geht das belgische Gesetz zur Euthanasie. Aktive Sterbehilfe ist dort selbst dann legal, wenn der Patient noch nicht im Sterben liegt. Kann sich ein Mensch nicht mehr selbst artikulieren, genügt es, wenn eine Vertrauensperson den Wunsch niederschreibt. Obwohl auch in Belgien die Sterbehilfe an strenge Richtlinien gebunden ist, bemängeln viele Experten die Missbrauchsmöglichkeiten. Der Vergleich mit den Zahlen aus den Niederlanden bestätigt diesen Verdacht zunächst nicht: 2002 ist das Gesetz in Kraft getreten, seitdem haben belgische Ärzte mehr als 260 Patienten beim Sterben geholfen.
Bei allen Diskussionen um Gesetze darf nicht vergessen werden, dass die Sterbehilfe nicht nur Hilfe zum sondern auch beim Sterben ist. Am Rande einer Tagung klagte in dieser Woche ein Berliner Arzt von einer Sterbestation, "über die heutigen Bedingungen des Sterbens spricht ja noch kaum jemand."