Sternstunde und Demütigung
9. Juli 2014Es ist ein Moment, der unter die Haut geht. Die Haare auf den Unterarmen stellen sich auf, hier geschieht gerade etwas Großes: Wir schreiben die 79. Minute im Estádio Mineirão und André Schürrle hat gerade ein Tor gemacht. Das ist in diesem Spiel eigentlich nichts besonderes, zum siebten Mal bereits fliegt der Ball an diesem denkwürdigen Abend in die Maschen des brasilianischen Tores. Auch ist es nicht die Art und Weise, wie der eingewechselte Schürrle den Ball mit Wucht und Präzision in den Winkel drischt. Es ist die Reaktion der brasilianischen Fans auf dieses Tor, die beeindruckt und berührt.
Nach und nach erhebt sich das ganze Stadion und klatscht Beifall. Es ist kein höhnischer Beifall für die blamable Vorstellung der eigenen Elf, sondern ehrliche Anerkennung für die Leistung der deutschen Mannschaft. Brasiliens Anhänger zeigen Charakter in der schwersten Stunde für die fußballverrückte Nation.
Taktisch weltmeisterlich
Unten auf dem Rasen jubeln die deutschen Spieler in einer Traube in Rot und Schwarz. Sie selbst scheinen nicht glauben zu können, was sie da gerade vollbracht haben, liegen sich in den Armen. Nie zuvor hat eine deutsche Mannschaft bei einer WM solch ein Spiel gezeigt. Brillant im Angriff, taktisch weltmeisterlich im Mittelfeld, in der Abwehr beeindruckend souverän und Keeper Manuel Neuer zeigte in den wenigen Momenten, in denen er gefragt war, erneut, dass er der beste Torhüter der Welt ist. Die DFB-Elf schreibt an diesem Abend mit einer einmaligen Leistung Fußballgeschichte.
Das alles "war so nicht unbedingt zu erwarten", sagte Thomas Müller nach dem Abpfiff und sorgte somit für die Untertreibung des Abends. Denn fast alle hatten vor der Partie mit einer knappen Entscheidung im gefühlt vorweggenommenen Finale von Belo Horizonte gerechnet. Und zu Beginn sah es auch danach aus. Brasilien ging wie gewohnt mit Verve und Offensivdrang in die Partie, versuchte Deutschland zu überrollen. Die Seleção versuchte, Deutschland in der eigenen Hälfte festzusetzen und mit aggressivem Pressing sofort vom Ball zu trennen. Kurzzeitig gelang es den Gastgebern die deutsche Elf etwas einzuschüchtern, doch dann legte die den Schalter um.
Überragender Khedira, treffsicherer Kroos
Angeführt vom überragenden Sami Khedira, der die ersten Entlastungsangriffe initiierte, drückte die deutsche Elf ihrerseits nach vorne und dann geschah Unglaubliches: In der 11. Minute stand Thomas Müller nach einer Ecke von Toni Kroos mutterseelenallein am langen Pfosten und schob den Ball mit dem Innenrist über die Linie. Wieder ein Standardtor für die deutsche Elf und irgendwie zu leicht, um wahr zu sein.
Danach waren die Brasilianer geschockt, ihr Spiel wirkte wie benommen, die Gelben taumelten schon nach dem ersten harten Schlag des Gegners. Es spricht für das taktische Gespür der deutschen Mannschaft, dass sie diesen Moment erkannte und mit schnellen Vorstößen in die sich bietenden Lücken eiskalt ausnutzte. Denn wenig später entschied die Elf von Bundestrainer Löw die Partie binnen drei Minuten: Miroslav Klose setzte sich in der 23. Minute per Nachschuss gegen Torhüter Júlio César durch und ist mit seinem 16. Treffer nun der beste WM-Torschütze aller Zeiten.
Trügerische Statistikwerte
Doch damit nicht genug: Ein Doppelschlag von Toni Kroos (24. und 26. Minute) versetzte Brasilien den frühen Knock-out. Wie im Training konnten die deutschen Spieler, die erfolgreich auf schnelles Passspiel setzten, durch die brasilianische Hintermannschaft spazieren. Brasilianische Gegenwehr? Fehlanzeige.
Auch das Fehlen des verletzten Superstars Neymar und des gesperrten Abwehrchefs Thiago Silva konnte diese nun an Selbstaufgabe grenzende Spielweise nicht erklären. Auch nicht ein Blick in die Statistik: Die zeigte trügerisch ähnliche Werte bei Ballbesitz (52 Prozent für Deutschland, 48 für Brasilien) Torschüssen (13 für Deutschland, zwölf für Brasilien) und Passquote (79 Prozent angekommene Pässe bei Deutschland, 82 Prozent bei Brasilien).
Brasiliens Abwehr? Nicht mehr existent
Es waren die Dinge hinter den nackten Zahlen die den Unterschied machten: Die DFB-Viererkette verteidigte wieder sehr hochstehend und stand fast immer sicher gegen die verzweifelt wirkenden Angreifer Fred, Bernard, Hulk und Oscar. So konnte die Abwehrreihe sofort bei Ballgewinn das Spiel eröffnen und den Ball tief in die brasilianische Hälfte spielen. Dort nutzten die deutschen Offensivkräfte die mangelhafte Zuordnung in der brasilianischen Verteidigung mit kühler Präzision aus.
Antreiber Sami Khedira durfte sich so nach 28 Minuten ebenfalls in die Torschützenliste eintragen, während die brasilianische Abwehr zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr existent war. Buhrufe zur Pause waren die Quittung für die brasilianische Elf, der André Schürrle in der zweiten Halbzeit mit seinem unnachahmlichen Drang zum Tor noch zwei weitere Sargnägel verpasste (69. und 79.), ehe Oscar in der Schlussminute noch zum 1:7-Endstand traf.
WM-Favorit ist nun nur noch ein Team
Was bleibt von diesem Spiel, ist die Entschuldigung von Brasiliens Coach Luiz Felipe Scolari für "die schlimmste Niederlage aller Zeiten. Das Ergebnis fällt auf mich zurück, ich bin der Verantwortliche", sagte Scolari, der Brasilien 2002 im Finale gegen Deutschland noch zum WM-Titel geführt hatte. Auf deutscher Seite bleibt die Erkenntnis, dass das Spielsystem nun zu 100 Prozent funktioniert, alle Mannschaftsteile ineinandergreifen und Joachim Löw niemandem mehr etwas vormachen kann: WM-Favorit ist niemand anders als die deutsche Mannschaft.