Stevia - null Kalorien und süßer als Zucker
23. August 2012Weltweit nutzen mehr als 150 Millionen Menschen die Pflanze und ihre Extrakte. Den herkömmlichen Zucker kann das Süßkraut allerdings noch nicht ersetzen. "Stevia eignet sich für Nischen wie künstliche Süßungsmittel", sagt Solveig Schneider vom Bundesverband der Süßwarenindustrie. "Den Zucker braucht man trotzdem, denn für Backwaren ist Stevia beispielsweise bislang nicht zugelassen. Für einen Kuchen würde bei den geringen Süßungsmengen von Stevia außerdem das Volumen des Zuckers im Teig fehlen. "Am ehesten eignet sich die Verarbeitung für Bonbons oder Weingummi", so Schneider.
China ist größter Stevia-Produzent weltweit
Auch die Getränkeindustrie, die zu den größten Zuckerverarbeitern überhaupt gehört, experimentiert mit dem Süßkraut. Bereits 2007 reichte Coca-Cola Patente basierend auf Stevia als Süßstoff ein. In den USA und Europa kann man Limonaden mit Stevia-Süße kaufen und Konkurrent Pepsi zieht mit. Der Brasilianer Prof. Silvio Cláudio da Costa traut Stevia eine Revolution des Lebensmittelmarktes zu. "Ich kenne das wahnsinnige Potential der Glykoside, vor allem von Rebaudiosid A, seit 25 Jahren. Es ist natürlich, ungefährlich, ohne Kalorien, hat viel Geschmack und verursacht keine Karies", sagt der Koordinator des Instituts Nepron der Staatlichen Universität von Maringá (UEM). "Brasilien war das erste westliche Land überhaupt, das Stevia industriell angebaut hat und Extrakte mit 90 Prozent Reinheit vorweisen konnte", so der Experte.
Im brasilianischen Bundesstaat Paraná hatte es früher einmal die weltgrößten Anbaugebiete von Stevia-Stauden gegeben, doch die Produktion war zu kostspielig, der Preis nicht konkurrenzfähig. Damals stellten die Bauern die Bepflanzungen wieder ein. Jetzt ist China mit zehn Prozent Anteil der größte Stevia-Produzent der Welt. In Asien wurde die Pflanze Anfang der 70er Jahre bekannt und seitdem industriell verarbeitet.
Verbraucher wollen natürliche Süßstoffe
Gesundheitsschädigende Wirkungen seien dabei nie beobachtet worden. Auch in Südamerika verweisen Stevia-Befürworter auf eine jahrhundertelange Verwendung ohne Nebenwirkungen. Trotzdem lähmt das Argument der gesundheitlichen Unbedenklichkeit bis heute die vollständige Zulassung von Stevia in der EU. In den 80er und 90er Jahren hatten in den USA Studien an Ratten ergeben, dass ein Abbauprodukt von Steviosid potentiell krebserregend wirkt. Die US Food and Drug Administration (FDA) und auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnten damals vor Stevia.
Bezeichnenderweise hatte die chemische Süßstoffindustrie an diesen Studien mitgewirkt. Für Jan Geuns passt dieses Detail perfekt ins Puzzle der Akteure im Kampf um den milliardenschweren Markt der Süße. "Nicht die Zuckerlobby wird unter dem Vormarsch von Stevia leiden, sondern vor allem die Hersteller von chemischen Süßungsmitteln. Die Verbraucher wollen natürliche Süßstoffe", sagt der Professor der Molekularphysiologie am Botanischen Institut der Katholischen Universität in Leuven.
Seit 15 Jahren befasst er sich mit dem Authorisierungsprozess von Stevia. "Die europäischen Lebensmittelgesetze benutzen das Argument der Lebensmittel-Sicherheit, um gute Produkte vom Markt fern zu halten. Wenn die Lebensmittelsicherheit wirklich wichtig wäre, dann sollten alle karamellisierten Zuckerprodukte einmal untersucht werden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass darin Karzinogene, also krebsauslösende Schadstoffe, zu finden wären", kritisiert er. Krank mache nicht Stevia, sondern zu viel Zucker.
Die WHO zählt weltweit fast 350 Millionen zuckerkranke Menschen. Der Weltzuckerverbrauch liegt bei rund 150 Millionen Tonnen jährlich, das entspricht einem Umsatz von mehr als 60 Milliarden Euro. Trotz steigenden Verbrauchs werden die Zeiten für europäische Zuckerhersteller nicht unbedingt besser. Agrarländer wie Brasilien können um ein Vielfaches kostengünstiger Zuckerrohr anbauen, das Potential von Stevia käme da möglicherweise nur ungelegen. Jan Geuns ist überzeugt, dass Korruption und Interessen der Zuckerlobby im Spiel sind. Sie arbeite nach dem Vorbild der Tabakkonzerne und wolle jegliche Bewegung auf dem Zuckermarkt verhindern.
100 Gramm Stevia entsprechen 40 Kilo Zucker
Der deutsche Stevia-Kenner und Wissenschaftler Udo Kienle glaubt hingegen nicht an Manipulation: "Es gibt keinen einzigen Beweis, dass die Zuckerunternehmen hier tätig geworden sind. Das sind Verschwörungstheorien." Für eine Zulassung eines Lebensmittelzusatzstoffes sei der Beleg der gesundheitlichen Unbedenklichkeit notwendig. Dieser Beleg werde dadurch erbracht, sagt der Experte der Universität Hohenheim, dass toxikologische Studien durchgeführt werden. Diese Vorgehensweise entspräche den Richtlinien und dauere eben seine Zeit.
Auch im Internet wird über Stevia diskutiert. "Zwar kriegt man von Stevia keinen trockenen Hals, doch die Süße ist ähnlich eklig wie bei den künstlichen Süßstoffen. Für mich ist es keine Alternative zum guten alten Zucker", schreibt beispielsweise ein Nutzer in seinem Blog. Tatsächlich sind die Inhaltsstoffe der zuckerähnlichen Stoffwechselprodukte der Pflanze im Nachgeschmack lakritzähnlich, an Süßholz erinnernd und genau hier liegt eine der größten Herausforderungen: Der Geschmack von Stevia-Produkten soll möglichst nahe an Zucker herankommen.