"Stillstand in fast allen Bildungsbereichen"
16. Oktober 2012Im Jahr 2000 hat sich die internationale Staatengemeinschaft in ihren sogenannten Millenniumszielen auf eine Grundschulbildung für alle Kinder, Chancengerechtigkeit und die Bekämpfung des Analphabetentums geeinigt. Seitdem veröffentlicht die UNESCO jedes Jahr einen Bildungsbericht, in dem sie die Fortschritte und die Qualität der weltweiten Bildung misst. Auch wenn viel erreicht wurde, gibt es noch jede Menge tun, meint die Leiterin des Bildungsberichts 2012, Pauline Rose. Etwa bei der Frage, wie Schulbildung und Arbeitsmarkt besser aufeinander abgestimmt werden können.
DW: Pauline Rose, welche positiven Entwicklungen beobachten Sie seit dem Erscheinen des letzten UNESCO-Weltbildungsberichtes?
Pauline Rose: In einigen Ländern konnte die Zahl der Kinder, die keine Schule besuchen, weiter reduziert werden. Zwei der herausragendsten Beispiele dafür sind Indien und Äthiopien. In Äthiopien ist es gelungen, die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen, um etwa eine Million zu verringern. In Indien sind es sogar noch mehr. Das bedeutet, es gab große Veränderungen im Leben der jungen Menschen in diesen Ländern. Das ist meiner Ansicht nach zum größten Teil darauf zurückzuführen, dass die Politik der Bildung einen hohen Stellenwert einräumt.
Wo gab es denn keine besonderen Fortschritte?
Das war leider in vielen anderen Staaten der Fall. Stagnation ist das Stichwort für den aktuellen Bericht. Wir beobachten in fast allen Bildungsbereichen einen Stillstand und zwar für alle Ziele. Am auffälligsten ist hier wiederum die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen. Sie blieb - mit den erwähnten Ausnahmen - gleich hoch wie in den Jahren davor, in denen wir zuletzt Daten erhoben haben, also 2009 und 2010. Damit gibt es heute immer noch weltweit mehr als 61 Millionen Kinder, die nicht unterrichtet werden. Besondere Sorge bereitet uns die Anzahl der Nichtschüler in Afrika südlich der Sahara. Sie hat sich drastisch erhöht, so dass heute mehr als die Hälfte der Kinder im sub-saharischen Teil Afrikas nicht zur Schule gehen.
Im Mittelpunkt des Weltbildungsberichtes 2012 steht die Frage, wie Schulbildung und Arbeitsmarkt besser aufeinander abgestimmt werden können. Warum haben Sie sich entschlossen, gerade dieses Thema hervorzuheben?
Wir haben den Eindruck, dass das Thema Fachkenntnisse in den Berichten bisher nicht ausreichend genug berücksichtigt worden ist. Und ohnehin ist es ein Thema, das immer dringlicher wird, weil immer mehr junge Menschen arbeitslos sind oder es im Rahmen des weltweiten wirtschaftlichen Abschwungs werden. Das und der größer werdende Anteil jüngerer Menschen an der Bevölkerung führen zu einer sich ausweitenden Krise. Der arabische Frühling in den arabischen Ländern hat uns deutlich vor Augen geführt, dass diese Kombination große Frustration hervorbringt. Eine Ursache für die hohe Jugendarbeitslosigkeit liegt eben auch in zu geringen Fachkenntnissen der jungen Leute.
Dabei geht es in der Debatte nicht nur um die Sorgen und Nöte von hochqualifizierten Studienabgängern, die keinen Job finden. Es geht auch um die Probleme derjenigen, denen selbst die einfachsten Grundkenntnisse fehlen. So haben wir herausgefunden, dass in Ägypten etwa ein Drittel der jungen Frauen aus ärmeren Verhältnissen lediglich eine Schulbildung von weniger als zwei Jahren genossen hat.
Aufgrund der Wirtschaftskrise ist die Jugendarbeitslosigkeit in vielen Staaten in den letzten Jahren sehr gestiegen. Wirkt sich das nicht auch negativ auf die Motivation der jungen Leute aus, zu lernen und gut in der Schule zu sein?
Im Gegenteil. Ich glaube nicht, dass der wirtschaftliche Abschwung den jungen Menschen wirklich einen Dämpfer versetzt hat. Viele entwickeln großen Ehrgeiz und sind motiviert, gute Ergebnisse in Schule und Ausbildung zu erzielen. Aber natürlich sind die jungen Leute frustriert, wenn sie trotzdem keine Möglichkeiten für sich sehen. Man muss ihnen eine Ausbildung geben, die sie befähigt, bessere und höher dotierte Jobs zu bekommen. Außerdem müssen wir ihnen unternehmerische Fähigkeiten vermitteln, damit sie ihre Chancen ausbauen können. Ein Mädchen aus Äthiopien hat es so formuliert: "Ich weiß, was ich werden möchte. Aber ich brauche jemanden, der mir die Fähigkeiten beibringt, die ich brauche, um mein Ziel zu erreichen."
In welchen Ländern klappt der Übergang von der Schule zum Beruf besonders gut? Welche Staaten können hier Vorbild sein?
Eines der erfolgreichsten Beispiele für den gelungenen Übergang von der Schulbank ins Berufsleben ist die Republik Korea. Dort wird schon seit mehr als 30 Jahren stark in die Entwicklung von beruflichen Kompetenzen investiert. Außerdem gibt es eine sorgfältig geplante Strategie, mit der die moderne Industrialisierung gefördert und Arbeitsplätze dementsprechend verändert und der Beschäftigungslage angepasst werden. Die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und der Schulabgänger wurden gut aufeinander abgestimmt. Darin sehen wir eine wesentliche Grundlage für das hohe Wirtschaftswachstum Koreas, das sich innerhalb dieser 30 Jahre von einem armen zu einem reichen Land entwickelt hat.
Ein weiteres sehr gelungenes Beispiel, das wir in unserem Bericht aufführen, stellt Deutschland dar. Sein berühmtes duales Ausbildungssystem, das das Bildungssystem mit der Welt der Arbeit verbindet und gleichzeitig praktische und theoretische Kenntnisse vermittelt, hat auch dazu beigetragen, die Jugendarbeitslosigkeit gering zu halten. Deutschland hat einen niedrigeren Prozentsatz an Arbeitslosen als andere europäische Länder. Es sind nur rund sieben oder acht Prozent, weil in den Übergang von der Schule ins Berufsleben investiert wird. Und Deutschland hat anderen Ländern dabei geholfen, ähnliche Programme zu entwickeln. Ägypten ist nur ein Beispiel dafür.
Die Millennium-Entwicklungsziele sollen bis 2015 erreicht werden. Schon im letzten Weltbildungsbericht 2011 haben Sie darauf hingewiesen, dass es 2015 sogar mehr Kinder geben kann, die nicht zur Schule gehen als heute. Brauchen die Länder mehr Zeit, um die Ziele umzusetzen?
Wir müssen ganz klar sagen, was bis 2015 noch zu tun ist und nicht zulassen, dass Führungskräfte, Politiker und Regierungen einfach sagen: "Wir haben die Ziele nicht erreicht." Nein, es gibt eine Dringlichkeit, sie bis 2015 zu erreichen. Andererseits ist jetzt schon klar, dass wir die Ziele nicht realisieren werden. So müssen wir der Sache auch über 2015 hinaus Nachdruck verleihen und besonders den Ländern mehr Aufmerksamkeit schenken, die schwer zu erreichen sind. Denn die meisten Kinder, die nicht zur Schule gehen, stammen aus sehr armen Haushalten und leben in abgelegenen ländlichen Gebieten. Wir müssen große Anstrengungen unternehmen, um ihnen einen besseren Zugang zur Schulbildung zu verschaffen.
Das Gespräch führten Sabine Damaschke und Greg Wiser, Übersetzung: Hiltrud Schoofs.