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Stimme Estlands - Paul Hillier und der Estnische Philharmonische Kammerchor

13. Juli 2006

Der Estnische Philharmonische Kammerchor aus Tallinn hat seinen eigenen Ton. Manuel Brug hat ihn in Tallinn gehört.

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Künstler des Monats auf Deutsche Welle Radio: Estonian Philharmonic Chamber Choir / Paul Hiller Director Foto: Tonu Tormis 2002Bild: presse/Tornu Tormis

Während jenseits der einen Grenze die Russen immer noch mit Planwirtschaft und Perestroika ringen, sind die kleinen, freien baltischen Länder bei aller Verschiedenheit eng zusammengerückt und haben den Blick fest auf die EU gerichtet.

Hier riecht nichts mehr nach Ostblock. Gepuscht wird jetzt das Internet, nicht das Kollektiv. Doch auf die Tradition baut man in Estland trotz Schwindel erregenden Fortschritts. Und die ist oft mit Musik verknüpft. Kein Wunder, bei einer Nation, deren erstes Parlament sich 1919 erstmals im Opernhaus versammelte. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es mit einem von Bauern und Arbeitern bevölkerten Deckengemälde verziert – das heute fast als ironischer Seitenhieb gegen das Gestern vorgeführt wird.

Die dort gespielte „Tosca“ ist lautere Provinz mit viel Herzblut. Doch der regelmäßig im benachbarten Konzertsaal auftretende Estnische Philharmonische Kammerchor (EPCC) ist lokal wie international Weltklasse. Ein vorzüglicher akustischer Botschafter mit 26 makellos intonierenden Kehlen – aber mehr noch, mit einer ganz eigenen Identität. Ernsthafte Konkurrenz war einige Jahrzehnte lang auf der anderen Ostseeseite der Kammerchor des Schwedischen Rundfunks; auch die Litauer können sich mit ihrem Rundfunkchor hören lassen. Doch kein anderer Klangkörper hat sich ein so unverwechselbar tönendes Gesicht gegeben wie der erst 1981 gegründete Kammerchor der Esten.

Das hat drei Gründe. Der erste heißt Tõnu Kaljuste, der ihn professionell geboren, geleitet, vor allem aber geformt hat, zwanzig Jahre lang. Dem war der Ellenheim Kammerchor vorausgegangen, eine Amateurvereinigung, die Tõnus Vater Heino ab 1966 und Kaljuste selbst ab 1971 dirigiert hatte. Der charismatische Dirigent ist nicht nur zu Hause eine Institution, sondern auch weltweit als Chor-Couturier gefragt. Doch trotz seiner vielfältigen, ja hektischen Aktivitäten – der Estnische Philharmonische Kammerchor blieb immer der ausgewogen tönende Fokus seiner internationalen Klangwirbelwinde.

Als immer wichtigerer Repertoire-Klammer, als Markenzeichen der ureigenen Art fungierte zudem Arvo Pärt. Der längst in Berlin lebende Exil-Este, im neokonservativen, enorm erfolgreichen Klanggewand einer neu erwachten Spiritualität voranschreitend, fand in diesen 26 Sängern das perfekte Instrument für seine schwerblütige, doch auch kristallin sich türmende, immens nachgefragte Vokalmusik.

Der Münchner Produzent Manfred Eicher schließlich wollte mit seinem Münchener Kult-Label ebensolches aufnehmen. Das ging jahrelang wunderbar. Der Dreiklang Pärt-ECM-EPCC florierte kreativ und kommerziell, vermarktete sich wunderbar gegenseitig. Denn welcher Chor kann schon auf einen weltberühmten Hauskomponisten verweisen, gibt diesem freilich mit einem erdig weichen, wie zugespitzt trennscharfen Stil einen ganz eigenen Klang, ein unverwechselbares Image?

Es spricht für alle Beteiligten, dass diese himmlische Musik-Verbindung 2001 beendet wurde, als sie am schönsten tönte und bevor sie leblos und nur noch mechanisch vervielfältigt wurde. Kaljuste wollte sich neu beweisen, auf zu neuen, globaleren Chorufern. Der Chor suchte neue Chef-Stimulanzen. Und fand sie glückhaft sofort in dem nicht minder berühmten Alte-Musik-Spezialisten Paul Hillier, der das Hilliard Ensemble und seit 1990 das Theatre of Voices zu staunenswert perfekten, dabei einzigartigen Vokalspielplätzen designt hat. „Ich wollte mich mit diesem perfekt russisch singenden, aber dabei leichter ansetzenden Sängern auf die ostkirchliche Musik stürzen“, erklärt Hillier seinen Ostsee-Einsatz.

Inzwischen hat Hillier eine Wohnung in Tallinn – und sich nicht nur das große Messen-, Liturgien- und Psalmen-Repertoire von Tschaikowsky und Rachmaninow bis hin zu den traditionellen Kleinmeistern erarbeitet. Ein großes Festival zum 70. Geburtstag von Arvo Pärt im Oktober 2005 war ebenfalls Ehrensache. Tallinn hat den Estnischen Philharmonischen Kammerchor systematisch zum tönenden Nukleus eines konsequent zeitgenössischen baltischen Klangraumes werden lassen. Was wiederum auf CD festgehalten ist. Die mutige Produzentin Robina G. Young vom kalifornischen Arm des Labels Harmonia Mundi folgte ihrem Chorstar auch nach Tallinn. Und nicht nur die drei Folgen „Baltic Voices“ mit Musik von Rautavaara, Pärt, Vasks, Nørgård, Schnittke, Bergman, Gorécki, Sariaaho wurden mit Preisen überhäuft. Eine transzendente Offenbarung ist auch „The Powers of Heaven“ mit licht sich aufspaltenden orthodoxen Gesängen des 17. und 18. Jahrhunderts.

Trotz englischer Agentur und weltweiter Einladungen achtet die rührige Chor-Geschäftsführerin Anneli Unt, die mit ihrer Truppe in einer ehemaligen Stallung unterhalb des Burgbergs neben dem Turm Pikk Hermann (Langer Hermann) residiert, dass man sich auch regelmäßig zu Hause vernehmen lässt. Kontinuität und Fortschritt, Heimatverbundenheit und Internationalität, das will in 70 Konzerten pro Jahr ausbalanciert sein. Natürlich wirkt der Chor nirgends so stark und erdig wie mit A-capella-Psalmen von Pärt oder Veljo Tormis – schwerelos und doch körperhaft, mit feinseidiger Pianokultur bis in die zart verhauchenden Polyphonie-Verästelungen – zwischen den bunten Altären und strengen Fensterbögen der gotischen Nicolaikirche in Tallinn. Freilich gilt es, auch global seine gewichtige Stimme im weltweiten Chorkonzert zu behalten.

2007 geht Hilliers Epoche als Chefdirigent in Tallinn zu Ende. Er hat viel Neues ausprobiert. Den jungen Komponisten Toivo Tulev gefördert. Bach und Händel, Mozart und Mendelssohn gepflegt, auch in „La Bohème“ hat der Chor kürzlich gesungen. Als regelmäßiger Gastdirigent wird Hillier dem Kammerchor verbunden bleiben. Einen festen Chef soll es nach ihm aber erst einmal nicht geben. Projektweise will man mit Hillier, Kaljuste und diversen anderen Dirigenten zusammenarbeiten. Unberührt von diesen Zukunftsfragen ist der Estnische Philharmonische Kammerchor derzeit ein gut geschliffener, erlesen funkelnder Diamant. Mit rauchfarbener Tönung. Das brillante Juwel in der Krone des für Chormusik offenbar so schöpferischen Nordosteuropas.

CD-Tipp

Baltic Voices Vol. 1-3: Kreek, Sandstrøm, Rautavaara, Tormis, Pärt, Vasks, Sisask, Tulev, Nørgard, Schnittke, Augustinas, Saariaho, Tüür, Górecki u. a.; 3 SACD HMU 807311, HMU 807331 und HMU 807391