Strässer: "Die EU kann nicht mehr lange warten"
19. Februar 2014DW: Herr Strässer, was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Bilder vom Maidan sehen?
Christoph Strässer: Das sind schreckliche Bilder, die sich in Europa abspielen. Wir waren eigentlich immer der Auffassung, dass es so was in Europa nicht mehr geben kann. Jetzt muss wirklich alles unternommen werden, auch seitens der Europäischen Union und der internationalen Gemeinschaft, damit die Gewalt aufhört.
Welche Möglichkeiten hat die Europäische Union, auf die Verantwortlichen einzuwirken?
Das ist im Moment natürlich die schwierige Frage, ob Appelle insbesondere an die Regierungsseite und den Präsidenten ausreichen - oder ob man nicht wirklich in den "Instrumentenkasten" der Sanktionen greifen muss. Ich bin mir nicht sicher, ob das jetzt schon der richtige Moment ist, aber man sollte schon darauf hinweisen, dass diese Möglichkeit besteht und man im Zweifel auch bereit ist, sie anzuwenden.
Welche möglichen Sanktionen sind in dem "Instrumentenkasten"?
Beispielsweise Reiseverbote für Verantwortliche oder die Sperrung von Bankverbindungen. Das ist das, was möglicherweise Wirkung erzielt. Aber man muss es sehr genau überlegen, weil es auch schon Fälle gab, wo Sanktionen eben nicht gewirkt haben und das letztlich als Instrument dann auch verbraucht war. Ich finde es wichtig, den Druck aufrecht zu erhalten und wenn sich in den nächsten ein, zwei Tagen die Situation weiter verschlimmert, dann wird man in diesen Kasten greifen müssen.
Sanktionen bergen ja auch immer die Möglichkeit, dass sie die Bevölkerung treffen. Wie schätzen Sie die Lage der ukrainischen Bevölkerung ein?
Das ist genau der Punkt, warum man sehr vorsichtig sein muss mit diesen Instrumenten. Ich glaube aber, dass man in den Instrumentenkasten nur dann greift, wenn Rückwirkungen auf die betroffene Bevölkerung ausgeschlossen werden. Man kann nie ausschließen, gerade wenn eine Regierung unter Druck gesetzt wird, dass es auch zu verschärften Sanktionen gegen die Bevölkerung kommt. Aber ich glaube, schlimmer als es im Moment ist, kann es kaum noch werden.
Die Oppositionellen, die nach Deutschland gekommen sind, bitten uns händeringend, aktiv zu werden, um sie selbst zu schützen und Situationen zu vermeiden, dass in Gefängnissen gefoltert wird, wenn man auf dem Maidan oder im Umfeld angetroffen wird. Die Situation ist wirklich sehr, sehr übel, und ich denke, es muss in den nächsten Tagen gehandelt werden, wenn sie sich nicht verbessert.
Welche Erkenntnisse haben Sie, wie die Situation abseits vom Maidan ist?
Nach unseren Informationen weiten sich die Aktionen im ganzen Land aus. Die Menschen wollen eine Veränderung der Verfassung, sie wollen mehr Rechte, sie wollen näher an Europa. Es ist ein Flächenbrand, der sich, wenn nicht bald Maßnahmen ergriffen werden, aufs ganze Land ausdehnt und nicht mehr kontrollierbar sein wird.
Es birgt ja eine gewisse Ironie, dass in der Ukraine für europäische Werte gestritten - und gestorben - wird, während in der EU selbst die europakritischen Stimmen stark werden. Wie bewerten Sie das?
Wenn die Europäische Union jetzt auf der Grundlage ihrer Werte handlungsfähig ist, dann ist das ein starkes Signal auch für die Debatten innerhalb der Europäischen Union. Es ist auch eine Bewährungsprobe für die EU. Deshalb würde ich mir wünschen, dass es gelingt zu zeigen, dass man in den wichtigen Fragen der europäischen Einigung auch mit einer Stimme sprechen kann und handlungsfähig ist.
Ein Problem der ukrainischen Opposition ist, dass sie eben nicht mit einer Stimme spricht, sondern dass es eine sehr heterogene Formation verschiedener Gruppen ist. Inwieweit ist die Opposition möglicherweise an der jetzigen Eskalation beteiligt?
Ja, die Wahrnehmung ist wohl richtig, da gibt es unterschiedliche Positionierungen. Aber das Wichtigste ist, dass die Gesprächsbereitschaft seitens der Regierung von allen Oppositionsgruppen ernst genommen werden kann, dass es diese ernsthaften Angebote gibt und dass dass auch die Opposition Möglichkeiten findet, den sich radikalisierenden Teil der Bewegung einzufangen. Und dass man die Ruhe und den Frieden auf den Straßen zurückgewinnen kann, wenn es tatsächlich zu Verhandlungen kommt über Neuwahlen und Verfassungsänderungen.
Es besteht im Moment aus meiner Sicht die große Gefahr der Eskalation innerhalb der Opposition durch einen möglicherweise nicht mehr zu beherrschenden Teil, der sich nicht mit den politischen Parteien und Gruppierungen verständigen will und aus anderen Gründen auf der Straße ist.
Sie haben Anfang der Woche den Oppositionellen Dmitri Bulatow getroffen. Kann er einer der Hoffnungsträger der Ukraine werden? Oder auf wen setzen Sie die Hoffnungen jetzt in der unmittelbaren Zukunft?
Ich glaube nicht, dass man das jetzt an einzelnen Personen festmachen kann. Es wäre aber sehr wünschenswert, wenn man auch auf die Stimmen auf den Straßen hört. Da sind viele zivilgesellschaftliche Bestandteile in dieser Bewegung, die ja auch ein Stück weit sich formiert hat auf der Grundlage der orangenen Revolution. Es wäre wirklich bitter für diese Menschen, wenn sie ein zweites Mal das Gefühl haben, nicht mitbestimmen zu können. Da sind viele oppositionelle Kräfte auch in der Verantwortung, sich in den Gesprächen mit der Regierung auf die breiten Bewegungen aus der Zivilgesellschaft zu verlassen und zu stützen.
Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Ukraine zerbricht?
Diese Diskussion haben wir ja schon vor vielen Jahren gehabt, dass es diese beiden, wie es immer genannt wird, eher zu Russland tendierenden ostukrainischen Landesteile und die mehr zu der Europäischen Union tendierenden im Westen gibt. Ich glaube aber, dass diese Diskussion nicht weiterführen wird. Es gibt, das ist jedenfalls meine Wahrnehmung, bei den Verantwortlichen sowohl bei der Regierung als auch bei der Opposition ein klares Bekenntnis dazu, dass die Ukraine als Staat erhalten bleiben soll. Und dass man jetzt versuchen muss, das, was in den vergangenen Jahren begonnen worden ist, zu Ende zu bringen und zu einem Demokratisierungsprozess zu kommen.
Christoph Strässer (64) ist Ende Januar zum neuen Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ernannt worden. Der Jurist war zuvor Vorsitzender der Arbeitsgruppe Menschenrechte in der SPD-Bundestagsfraktion und Mitglied im Bundestagsausschuss für Menschenrechte.