Stuttgart 21 - ein umstrittenes Bahnprojekt
14. September 2016"Nicht machbar, zu teuer", hieß es am Anfang. Bereits in den 1970er Jahren träumten einige Lokalpolitiker von Veränderungen am Stuttgarter Bahnhof und seinen Verbindungen. Erst 1994 werden die Pläne wieder aufgenommen und konkreter. Das ehrgeizige Ziel: Bis zum Jahr 2021 soll alles realisiert sein. Daher der prägende Projekttitel.
"Stuttgart 21" ist ein gigantisches und ehrgeiziges Vorhaben der Bahn und des Landes Baden-Württemberg. Zu dem Paket gehören Bahnstrecken, die aus- und umgebaut und teilweise in Tunnel verlegt werden. Zum Beispiel Teile der Strecke Ulm-Stuttgart. Mehr Verkehr soll von der Straße auf die Schiene, Nah- und Fernverkehr besser vernetzt werden. Alles soll moderner und schneller werden. Die Vision: Die Wirtschaftsräume von Paris bis Bratislava sollen mit Hochgeschwindigkeitsverbindungen verbunden werden. Mit dem Bahnhof Stuttgart mittendrin.
Der Stuttgarter Bahnhof ist aber seit dem ersten Bau 1914 ein Kopfbahnhof. Alle einlaufenden Züge müssen in umgekehrter Richtung wieder auslaufen. Auf bis zu 16 Gleisen parallel. Das dauert den Planern der Zukunft zu lange. Der Bahnhof Stuttgart als Herzstück des Projekts soll deshalb als Durchgangsbahnhof teilweise unterirdisch verlegt werden. Das soll ein umfangreiches Städtebauprojekt auf den frei werdenden Flächen ermöglichen.
Einst 2,5 - heute wohl 11 Milliarden Gesamtkosten
Als 1997 der Auftrag an ein Düsseldorfer Architektenbüro geht, schätzen Bahn, Bund, Land und Stadt die Kosten von Stuttgart 21 auf umgerechnet 2,5 Milliarden Euro. 2001 beginnt das so genannte Planfeststellungsverfahren als Grundlage für alle benötigten Strecken und Bauten. In einer Wirtschaftlichkeitsberechnung der Bahn deuten sich aber 2004 schon höhere Kosten an. Diese steigen in den Folgejahren bis 2009 auf bis zu fünf Milliarden Euro.
Probleme mit Gesteinsformationen und immer neue Anforderungen bei Gleisstrecken und Bahnhofsumbau sind die Hauptgründe. Das Umweltbundesamt veröffentlicht 2010 schließlich ein Gutachten, das sogar bis zu elf Milliarden Euro Gesamtkosten vorhersagt. Noch sind sich die regierenden Parteien (CDU/FDP) sogar mit der Opposition (SPD) einig, dass sie das Projekt dennoch realisieren wollen. Die Bauarbeiten beginnen. Aber in der Bevölkerung regt sich erster Unmut.
Der schwarze Donnerstag
Die Gegner von Stuttgart 21 kritisieren nicht nur die hohen Kosten für ein vermeintlich unrentables Vorhaben, das auf manchen Strecken gerade einmal eine Zeitersparnis von fünf Minuten Fahrzeit bringe. Ihre Sorge gilt mancher Bahnstreckenführung, dem Abriss eines Kulturdenkmals (als solches gilt der Bahnhof seit 1987), dem Bahnhofsumbau mit Sicherheitsmängeln bei Rolltreppen und zu langen Fluchtwegen. Vor allem befürchten sie enorme Spekulationsgeschäfte um die neu geplanten Gebäude auf dem Bahnhofsgelände, die sozialen Wohnungsbau zu wenig berücksichtigen würden.
Viele Bürger, darunter auch viele, die in ihrem Leben zum ersten Mal protestierten, setzen sich vor allem dafür ein, den Schlosspark am Bahnhof mit seinem alten Baumbestand zu erhalten. Bäume werden besetzt. Am 30.September 2010, einem Donnerstag, geht die Polizei entschieden mit Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Es gibt Verletzte.
Ein Rentner, durch einen Wasserstrahl getroffen, erblindet fast vollständig. Der Begriff "Wutbürger" entsteht. Vier Jahre später wird das Verwaltungsgericht Stuttgart den Polizeieinsatz für rechtswidrig verurteilen. Aber im Jahr 2010 sind die Demonstranten zunächst auf sich allein gestellt. Doch weil sie beharrlich weiter demonstrieren, gibt es eine überraschende Wende.
Lehrstunde in direkter Demokratie
Unter Leitung des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler beginnt eine umfangreiche Schlichtung zwischen Bürgern, Bahnverantwortlichen und Politikern. Die Schlichtungsrunden werden sogar live im Fernsehen und im Internet übertragen.
Es kommen noch einmal alle Fakten der bisherigen Planungen und Bauarbeiten auf den Tisch und werden abgestimmt. Am Ende steht ein Kompromisspapier, das den Bau von Stuttgart 21 zwar erlaubt, aber Nachbesserungen in Details fordert. Viele dieser Forderungen sind bis heute nicht erfüllt, weil der Schlichterspruch rechtlich nicht bindend ist.
Die verantwortliche Regierung wird abgestraft
Viele Bürger entscheiden im Jahr 2011 in der Landtagswahl neu. Die seit Jahrzehnten an eine Mehrheit im Land Baden-Württemberg gewohnte regierende CDU mit ihrem Ministerpräsidenten und Stuttgart 21-Befürworter Stefan Mappus erhält keine ausreichende Mehrheit mehr. Künftig regiert Winfried Kretschmann als erster grüner Ministerpräsident zusammen mit der SPD. Kretschmann ist erklärter Gegner des Projekts Stuttgart 21.
Noch im gleichen Jahr gibt es eine Volksabstimmung über das Bahnprojekt. Es siegen dabei allerdings die Bahn-Befürworter mit fast sechzig Prozent. Die Protestlager der letzten S21-Kritiker am Bahnhof werden 2012 geräumt und die Bauarbeiten fortgesetzt.
Stuttgart 21 - eine unendliche Baustelle?
Der große Protest ist in den vergangenen vier Jahren stark zurück gegangen. Schlichter Heiner Geißler führt das auf die Tatsache zurück, dass die Bürger sich heute eher eingebunden, angehört und verstanden fühlten.
Doch vor vielen Problemen, vor denen die Gegner des Projekts gewarnt hatten, stehen die Bauarbeiter für die Bahn immer noch. Artenschutz erfordert eine geänderte Tunnelverlegung. Gesteinsprobleme verlangen eine angepasste und damit teurere Bauweise. Es gibt Wasserprobleme zwischen dem Tunnelgeflecht. Derzeit wird der Guss der Bodenplatte für den Bahnhof 21 vorbereitet. Da hinein gelegt werden soll am Freitag der Grundstein für den Bahnhof, von dem derzeit nur noch ein Rumpf zu sehen ist.
Zur Feier der Grundsteinlegung hat allerdings einige Prominenz abgesagt. Dazu gehört der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die Hälfte seiner inzwischen grün-schwarzen Koalition. Angeblich werden die jüngsten Zahlen aus dem Bundesrechnungshof nicht erfreulich ausfallen. Ein Münchner Verkehrsberatungsbüro hat die Kosten für Stuttgart 21 jüngst mit zehn Milliarden Euro angegeben. Niemand möchte sagen, ob das noch im Verhältnis zu einem Vorteil für Bahnkunden steht.