"Survivors": 75 Porträts von Holocaust-Überlebenden
21. Januar 2020Mit raumgreifenden Schritten stürmt Martin Schoeller durch die Ausstellungsräume: professionell-prüfender Blick auf die Ausleuchtung der Portraitfotos, die Details der seriellen Hängung. Dann entspinnt sich eine knappe Diskussion mit Kuratorin Anke Degenhard, die ihm die Lichtsetzung erläutert. Er nickt zufrieden, Schoellers dunkelblonde Dreadlocks folgen der raschen Kopfbewegung, mit der er alles noch einmal ganzheitlich in den Blick nimmt.
Der bekannte Fotograf lebt seit den 1990er Jahren in New York, kommt aber oft nach Deutschland. Entstanden ist die Idee zu diesem einmaligen Fotoprojekt mit Überlebenden des Holocaust bei einem Treffen mit Kai Diekmann in der Berliner "Paris Bar". Diekmann ist Ex-Chefredakteur des deutschen Boulevardzeitung "Bild" und seit vielen Jahren Vorsitzender des deutschen Freundeskreises von Yad Vashem.
75 Porträts zum 75. Jahrestag am 27. Januar
Die Verantwortlichen der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem waren schnell einverstanden. Als Ort für die Fotoaufnahmen wurde Yad Vashem ausgewählt, ein vertrauter Ort für alle Überlebenden, erzählt Schoeller im DW-Interview. "Es gab nur ein bisschen Licht. Das war ein ganz normaler Raum, mit niedrigen Decken, also kein besonders spannender Raum. Ich brauche auch nicht viel Platz für mein Setting."
Die Auswahl der 75 in Frage kommenden Personen überließ der Fotograf der Gedenkstätte. Man kennt sich, viele der Holocaust-Überlebenden, die zum Teil über 90 Jahre alt sind, kommen regelmäßig dorthin. Sie treffen dort Besucher und Jugendgruppen aus aller Welt, um, als Zeitzeugen von ihren Erlebnissen in der Nazizeit und dem Überleben in den Ghettos Konzentrationslagern zu erzählen.
Manche hätten auch als Partisanenkämpfer überlebt oder seien als jüdische Kinder versteckt worden. Und das Erzählen sei eine absolute Herzensangelegenheit, berichtet die israelische Kuratorin Vivian Uria. Vielen der Überlebenden erhalte das ihre Kraft und Zufriedenheit. Zusammen mit Anke Degenhard, der Kuratorin auf deutscher Seite, hat sie die Ausstellung vorbereitet und für Yad Vashem betreut.
Zeche Zollverein: Kunst statt Kohle
Das Gebäude ist ungewöhnlich für eine Ausstellung: Die ehemalige Kohlenmischanlage der Kokerei auf der Zeche Zollverein hat früher Tonnen von Steinkohle beherbergt. Bis unter die Decke lagerte das schwarze Gold des Ruhrgebiets. Martin Schoeller bevorzugt sonst für seine Fotografien eher die schlichte Ästhetik eines "White Cube", dieser historische Ort bedeutete eine extrem Herausforderung an das Ausstellungskonzept.
Als Anke Degenhard den Ort ausgekundschaftet hatte und Schoeller begeistert erste Fotos schickte, war dieser zunächst nicht ganz überzeugt. Die extrem hohen Betonwände sind rau, kaum verputzt - man sieht die Spuren der Arbeiten von damals. Metallplatten sind als Zwischendecke eingezogen, dazwischen gibt es Brücken mit grob geschweißten Geländern als Übergang, wie es in der Zechenindustrie üblich war. Aber mittlerweile ist der Starfotograf ganz glücklich mit dem Raumgefüge, das seinen großformatigen Fotografien viel Leuchtkraft gibt.
Den Boden des riesigen Geschosses kann man von oben nicht sehen, jeder Schritt hallt in dem riesigen Kubus nach. Jeder noch so kleine Laut wird zum Donnerhall. Der Blick in die bodenlose Tiefe ist unheimlich. Hoch über einem metallenen Übergang wirft ein Beamer den Film über den Entstehungsprozess der Fotos in Yad Vashem an die Wand. Es sei ihm wichtig, dass jeder sehen und miterleben kann, wie diese Fotos zustande gekommen sind, erklärt Kuratorin Degenhard.
Intensive Lehrjahre in New York
Drei Jahre war Schoeller Assistent von Starfotografin Annie Leibovitz. Von 1993 bis 1996 arbeitete er in New York und bei Fotoshootings rund um den Globus eng mit der Starfotografin zusammen. Und er lernte viele Prominente dabei kennen, die sich von Leibovitz ablichten ließen. Mit seiner offenen Freundlichkeit fand er schnell Zugang zur amerikanischen Kunstszene.
Später, als Schoeller längst seine eigene künstlerische Handschrift entwickelt hatte, kamen sie alle in sein Fotoatelier: Barack Obama, Clint Eastwood, Angela Merkel, Meryl Streep, Hillary Clinton, Angelina Jolie, Donald Trump - wer Rang und Namen hat in der oberen Liga von Politik und Filmbusiness, wurde in den frontal aufgenommenen Porträtfotografien verewigt. Ikonen der Zeitgeschichte: Radikal ehrlich, den Blick in die Linse gerichtet, wirken die Gesichter bei Schoeller wie Skulpturen - Lebensgeschichte(n) in Gesichtszüge gemeißelt.
Vor Schoellers Linse sind alle gleich
Martin Schoeller, 1968 in München geboren und in einer Frankfurter Intellektuellenfamilie aufgewachsen, wirkt, als habe er gute Bodenhaftung. Und ein klare Haltung. Seine künstlerischen Ambitionen sind durchaus politisch. Er versteht seine Arbeit als Fotograf auch als demokratischen Beitrag zu einer kriselnden Gesellschaft: "Es ist erschreckend zu sehen, wie sich der Antisemitismus momentan in Europa und anderswo erneut Bahn bricht", sagt er. Er spüre als Fotograf große Verantwortung. "Ich glaube, dass wir nur dann als Menschen vorankommen können, wenn wir bereit sind aus der Geschichte zu lernen", fügt er mit Verve hinzu.
Für ihn sind alle Menschen vor seiner Profi-Kamera gleich. Prominente genauso wie New Yorker Obdachlose, die er auch vor die Linse geholt hat. Aus Schoellers Porträts spricht Artikel 1 der UN-Menschenrechtscharta: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."
Ausstellung wird um die Welt reisen
Seine Arbeiten polarisieren stark. Aber kaum jemand bleibt unberührt von ihnen. Inzwischen arbeitet Martin Schoeller selbst als Starfotograf für renommierte Zeitschriften, wie "Rolling Stone", "National Geographic", "GQ", "Esquire" oder das New Yorker "Time Magazine". Porträtfotografien von ihm sind weltweit in wichtigen Sammlungen vertreten.
"Survivors. Faces of Life after the Holocaust" wurde am 20. Januar 2020 vorgestellt, also genau eine Woche, bevor sich am 27. Januar die Befreiung der überlebenden Häftlinge des NS-Vernichtungslagers Auschwitz zum 75. Mal jährt. Auch einige der hochbetagten jüdischen Zeitzeugen aus der Fotoausstellung haben Auschwitz-Birkenau und die Todesmärsche überlebt.
Heute sind sie stolz, zu den "Survivors" zu gehören. Zeitzeuge Naftali Fürst (im Bild re) ist einer von ihnen. Er wurde eigens mit einer Maschine der deutschen Luftwaffe aus Israel zur Eröffnung eingeflogen - eine Geste der Ehrerbietung - auch der deutschen Bundesregierung - gegenüber allen Beteiligten dieses Fotoprojektes.
Nach der Station in Deutschland wird die Fotoausstellung weiter auf Reisen gehen. Die nächsten Stationen sind Toronto und Maastricht, berichtet Kuratorin Anke Degenhard, aber sie würden sie gern die nächsten zehn Jahre um die Welt schicken.
Die starken, überlebensgroßen Porträts der 75 Holocaust-Überlebenden sind noch bis zum 26. April 2020 In der Zeche Zollverein in Essen zu sehen. Finanziert wurde das Ausstellungsprojekt von der RAG Stiftung, ausgerichtet in Kooperation mit der Stiftung Kunst und Kultur, der Stiftung Zollverein und der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Statt eines Katalogs sind die Fotografien als Bildband im Steidl Verlag erschienen - mit einem Vorwort des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck.
Info: Die Fotoausstellung "Survivors. Faces of Life after the Holocaust" ist - im Mai wiedereröffnet - auf Zeche Zollverein noch bis zum 26. Juli 2020 zu sehen. Das gleichnamige Buch mit den Fotoarbeiten von Martin Schoeller ist im Steidl Verlag erschienen: ISBN 978-3-95829-621-3.