Symbolträchtiges Kampfgebiet Kundus
30. April 2015Die am vergangenen Wochenende (25.04.2015) ausgebrochenen Kämpfe zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften sind die ersten größeren militärischen Auseinandersetzungen im Norden des Landes seit dem Abzug der NATO-Truppen. Wie ein Korrespondent der DW aus Kundus berichtet, sollen auch aus dem Ausland eingesickerte Extremisten an den Kämpfen beteiligt sein. Die Befürchtungen vieler Bewohner, dass sich die Lage nach dem Abzug der Bundeswehr 2013 verschlechtern würde, scheint sich zu bewahrheiten.
Das deutsche Kontingent im Rahmen der ISAF-Mission sollte nach den ursprünglichen Planungen im westafghanischen Herat an der Grenze zum Iran stationiert werden. Nach einigen Verhandlungen wurde dann aber das unscheinbare und vollkommen unbekannte Kundus an der Grenze zur ehemaligen Sowjetrepublik Tadschikistan ausgewählt - nicht zuletzt, weil der Norden Afghanistans als vergleichsweise sicher galt.
Am 25. Oktober 2003 traf das erste Vorauskommando der Bundeswehr ein, in der Folge entstand das erste Feldlager, noch mitten in der Stadt und mit eher provisorischer Sicherung aus Holztürmen und eilig über Lehmmauern gelegten Stacheldraht. Die Situation erschien so sicher, dass die ersten Soldaten mit ihren auf dem lokalen Markt angekauften Autos Patrouille fuhren. Die Fallschirmjäger des ersten Kontingents versuchten sich zudem als Entwicklungshelfer.
"Bad Kundus"
Entlang der Ausfallstraßen bohrten sie Brunnen und errichteten Brücken. In den Genuss dieser Projekte mit möglichst schneller und sichtbarer Wirkung ("quick impact") kamen vor allem die Dörfer entlang potentieller Evakuierungsrouten, um die Bewohner im Ernstfall freundlich zu stimmen. Sie folgten damit eher militärisch-taktischen Überlegungen als zivil- entwicklungspolitischen Zielsetzungen. Erste Konflikte mit den staatlichen Hilfsorganisationen, die 2004 langsam nachzogen, kamen auf. Dennoch entwickelte sich in der Folge eine fruchtbare Zusammenarbeit, die ihren institutionellen Ausdruck in einem sogenannten "Provincial Reconstruction Team" (PRT) fand. Hier arbeiteten Auswärtiges Amt, staatliche Entwicklungshilfe und Militär zusammen.
Dutzende Entwicklungshelfer und Hunderte von Soldaten waren nun in Kundus, der quirligen Kleinstadt in einer für Afghanistan ungewöhnlich grünen Ebene, umgeben von Reisfeldern und sanften Hügeln. Auf einem dieser Erhebungen direkt vor der Stadt bauten Bundeswehr und die staatliche Entwicklungshilfe ein neues Feldlager, besser gesichert und näher am Flughafen. Bald schwärmten die Deutschen von "Bad Kundus", wenn sie abends unten in der Stadt im Ausländertreff "Lapislazuli" zusammensaßen.
Die Stadt veränderte sich. Die Bombentrichter in den Straßen aus früheren Kämpfen wurden aufgefüllt, die Fahrbahnen darüber geteert. Schulen wurden errichtet. Ein Lehrausbildungszentrum in der Stadt zog viele junge Talente an. Workshops zu Friedensarbeit, Frauenzentren oder die Förderung von Kleinbetrieben - die gesamte Palette der Entwicklungshilfe war vor Ort.
Dunkle Wolken
Die Idylle fand ein jähes Ende im Jahr 2007, als ein Selbstmordattentäter drei deutsche Soldaten auf einem Markt in der Stadtmitte in den Tod riss. Zwei Jahre später sorgte die umstrittene Entscheidung des örtliche Bundeswehrkommandeurs Oberst Klein für Schlagzeilen, als er die Bombardierung von zwei Tanklastern anordnete. Sie waren offenbar in die Hände von Taliban geraten und der Offizier fürchtete, sie könnten als fahrende Bomben gegen das Feldlager eingesetzt werden. Dutzende Zivilisten starben.
In der Folge gerät Kundus noch häufiger unter Feuer, 2010 zum Beispiel, als die Bundeswehr in den Gebieten um die Stadt selbst aktiv zum Angriff übergeht. Insgesamt starben 18 Bundewehrsoldaten in den Jahren deutscher Präsenz. "Kundus hat die Bundeswehr geprägt wie kaum ein anderer Ort - hier wurde aufgebaut und gekämpft, geweint und getröstet, getötet und gefallen", sagte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maiziere, als die Bundeswehr im Oktober 2013 ihren Einsatz beendete.
Zu früh, wie sich jetzt herausstellt. Schon beim Abzug vor eineinhalb Jahren hatten die Bewohner große Befürchtungen: "Wir wissen, dass wir ohne die militärische Unterstützung der Bundeswehr nicht weiter kommen", sagte damals ein NGO-Mitarbeiter der DW. Wirtschaftsunternehmen, die direkt mit dem Militär zusammenarbeiteten, brachen zusammen. Das Feldlager, das an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben wurde, verfällt.
Wachsende Bedrohung trotz Entwicklungserfolgen
Die Entwicklungshilfe versucht unterdessen, das Beste aus der neuen Situation zu machen. Straßenbau und andere Projekte werden weitergeführt. Das Auswärtige Amt pumpt mit einem deutschen Stabilisierungsprogramm für die Nordprovinzen noch bis 2017 insgesamt 87 Millionen Euro in die Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan und Kundus. Der Norden bleibt weiter der Schwerpunkt der deutschen Entwicklungshilfe für Afghanistan. Ein Großteil der jährlich 430 Millionen Euro fließt in diese Gebiete. Der Parlamentarische Staatssekretär im Entwicklungshilfeministerium, Thomas Silberhorn, sprach von "beeindruckenden Entwicklungserfolgen" als er im Februar den Norden Afghanistans besuchte.
Trotzdem erstarkten die Taliban immer mehr. Auch für sie ist Kundus ein Symbol. Bis zum Sturz ihres Regimes war die Stadt eine Hochburg im Norden, eine Rückeroberung nach einem Jahrzehnt westlicher Präsenz wäre ein großer Prestige-Erfolg. Schon bald nach dem Abzug häuften sich die Hinweise über Aktivitäten der Radikalislamisten. Vergangenen Sommer hissten sie symbolträchtig ihre Fahne auf einem ehemaligen Außenposten der Bundeswehr, bis ihn die afghanische Armee wieder zurückeroberte.
Im Herbst berichtete der ARD-Reporter Marc Thörner, dass die Taliban in manchen Gebieten um die Stadt bereits eine Schattenherrschaft mit Scharia-Gerichten etabliert haben sollen. Vergangene Woche warnte der Vize-Gouverneur von Kundus, die Stadt könnte an die Taliban fallen. Nun wird erbittert gekämpft, wie im Dorf Gul Tepa nahe der Stadt. Dort hatte eine deutsche NGO im Jahr 2005 eine Schule gebaut.
Unter Verwendung von Beiträgen von Nabila Karimi-Alekozai und Marc Thörner