Syriens Kinder und ihre verzweifelten Retter
28. November 2018"Die Kinder sind die großen Verlierer." Dr. Nour dreht den schmalen Ring an ihrem Finger. "Die ganz großen Verlierer" wiederholt die Ärztin und steigt im dritten Stock des Paul-Henri-Spaak Gebäudes aus dem Aufzug in die endlos langen Gänge des Abgeordnetenhauses der Europa-Parlamentarier. Ihr Blick schweift über den Place du Luxembourg. Es ist ihr erster Besuch bei EU-Politikern in Brüssel.
Dr. Nour, die ihren Vornamen lieber nicht lesen will, ist Kinderärztin und arbeitet westlich der syrischen Stadt Idlib in einem Kinderkrankenhaus. Ihr Mann, auch Arzt, übernimmt dort im Al Abareb Hospital derzeit ihre Schichten. Solange die syrische Ärztin auf Europa-Reise ist, kann sie sich nicht selbst um ihre kleinen Patienten kümmern. Hier in Brüssel will sie für ihre Kranken mehr erreichen, als nur das Überleben von einem Tag zum nächsten.
Medizinischer Notstand in Idlib
"Wir benutzen Spenderblut direkt, ohne es zu säubern" beschreibt die Ärztin die medizinische Lage vor Ort gegenüber der DW. "Vor dem Krieg hatten wir Blutbanken, so konnten wir das Blut vorab reinigen. Jetzt hängen wir die Spenderbeutel direkt an die Kinder, ohne es zu prüfen". Das sei gefährlich. "Aber", so Dr. Nour, "wir haben einfach keine Wahl, wir müssen versuchen, diese kleinen Menschenleben zu retten".
Zusammen mit zwei Kollegen, ebenfalls praktizierende Ärzte aus Idlib, trifft Dr. Nour in Brüssel neben Diplomaten auch EU-Parlamentarier. Die liberale Europa-Abgeordnete Marietje Schaake ist eine von ihnen. Aus ihrer Sicht spitzt sich die humanitäre Lage zu. Es fehle an den wesentlichsten Dingen. Zu wenig Ärzte, zu wenig Medikamente, so die niederländische Politikerin, die für die ALDE (Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa) im EU-Parlament sitzt.
"Ich bin sehr enttäuscht, dass die EU keine politisch aktivere Rolle bei der Lösung des Syrien-Konflikts eingenommen hat. Wir haben nicht genug getan", sagt Schaake der DW. Es sei unerlässlich, dass Europa die Menschen in Syrien nicht fallen ließe. Die Zivilisten in und um Idlib müssten europäische Hilfe erfahren.
Finanziert wird die Reise der syrischen Mediziner nach Brüssel mithilfe der Syrisch-Amerikanischen Mediziner Gesellschaft (SAMS) mit Sitz in New York. Die Nicht-Regierungsorganisation finanziert derzeit die Hälfte aller Kosten für die Krankenhäuser in Idlib: Medikamente, Apparate, Gehälter. Seit Ausbruch des Konflikts beziehen auch die drei Ärzte ihr Gehalt von SAMS. Laut der syrisch-amerikanischen Vereinigung leben derzeit rund 3,5 Millionen Zivilisten in der Region.
NGO's kürzen Mittel
"Wir brauchen dringend Geld", sagt John Dautzenberg, Sprecher der syrisch-amerikanischen Institution. Das Budget werde kommendes Jahr deutlich kleiner ausfallen. Ein Teil der Mittel werde im neuen Jahr auf andere Konflikte, etwa den Jemen, umgewidmet. "Für Idlib ist das dramatisch", klagt Dautzenberg. Die SAMS-Delegation wolle nun die Europäer überzeugen, dass jetzt der Moment sei, durch eine direkte Finanzspritze die Not der Menschen dort zu lindern.
"Die medizinische Versorgung ist verheerend, wir wissen nicht, woher wir noch Hoffnung schöpfen sollen", beschreibt der Chirurg Mohamad Abrash die Situation der Krankenhäuser in der Region um Idlib. Seit über 30 Jahren arbeitet er im "Idlib Central Hospital". Jetzt, so Abrash, komme er langsam ans Ende seiner Kräfte.
Abrash kommt gebürtig aus Idlib. Längst habe er seine Familie in die Türkei gebracht, Syrien sei viel zu gefährlich. Er selbst sei geblieben. "Ich bin der einzige Chirurg im Krankenhaus, unzählige sind ausgewandert, viele verletzt, manche umgekommen", so der 56-Jährige. Medizinstudenten seien noch da, ein Studium im Krieg jedoch unmöglich geworden. Deshalb versuche er jetzt, sagt Abrash, die jungen Leute vor Ort soweit anzulernen, bis sie selbst notdürftig operieren können.
"Wir können die Kinder nicht im Stich lassen"
Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben seit Beginn des Konflikts finanzielle Hilfen in Höhe von über zehn Milliarden Euro bereitgestellt. Diese Mittel sollen sowohl Geflohenen innerhalb Syriens als auch im Ausland helfen. Als Reaktion auf die Krise in Syrien richtete die EU zudem einen regionalen Treuhandfonds ein, der über rund 1,5 Milliarden Euro verfügt.
Für die EU-Abgeordnete Schaake muss die EU noch stärker als in der Vergangenheit an einer "echten Friedensperspektive" arbeiten. Sprich, konkrete Fortschritte erzielen in der bereits formulierten Regional-Strategie: Beendigung des Krieges durch einen tatsächlichen politischen Übergang, bei dem alle Seiten konstruktiv einbezogen werden, und Rettung von Menschenleben durch die Deckung des humanitären Bedarfs.
Es eilt. Ärzte wie Dr. Nour stoßen täglich an ihre Grenzen. Ihre Familie lebt mittlerweile in der Türkei, direkt an der syrischen Grenze. Der Alltag der Ärztin ist rastlos. Für zwei Tage reist die Mutter von zwei kleinen Töchtern nach Idlib, um dort ihren 24-Stunden- Dienst anzutreten.
Sechs Stunden dauern die Kontrollen jedesmal an der syrisch-türkischen Grenze, wenn sie zur Arbeit fährt, erzählt die Ärztin. Sobald sie wieder bei den Töchtern in der Türkei ist, bricht ihr Mann zum Dienst nach Syrien auf. Fünf Tage und Nächte dauert seine Schicht, dann übernimmt wieder seine Frau. "Jeder Tag zehrt an unseren Kräften. Aber es gibt kaum Ärzte, wir können die Kinder nicht im Stich lassen."
"Bei uns herrscht Krieg"
Aus Sicht der Mediziner von Idlib könnte die EU mit einer Nothilfe-Initiative ihrer Region helfen. So reagierte Europa 2016 auch auf die dramatische Verschlechterung der humanitären Lage in Aleppo. Jene EU-Direkthilfe ermöglichte es humanitären Organisationen, Zivilpersonen zu retten, beschreibt Osama Abuelezz das damalige Engagement.
Der Allgemeinmediziner arbeitet für SAMS in Aleppo. Vor zwei Jahren war der Arzt schon einmal in Brüssel. Damals warb er für Aleppo. "Dass ich 2018 für Idlib wieder hier bin, ist tragisch. In Aleppo haben wir vor zwei Jahren durch Angriffe neun Krankenhäuser verloren, alles wurde zerstört. Wenn es uns so in Idlib trifft, sind wir verloren."
In Deutschland läuft im Dezember die einmalige Verlängerung des Abschiebestopps für syrische Flüchtlinge aus. Und dann? Zurückschicken? Darüber streiten die deutschen Ministerpräsidenten derzeit heftig. Aus medizinischer Sicht, darin sind sich die syrischen Ärzte in Brüssel einig, sei zurückschicken eine humanitäre Katastrophe. "Jeden Tag müssen wir Hunderte abweisen, weil wir sie nicht medizinisch versorgen können." Bei uns herrscht Krieg."