Syriza in Griechenland: Der Niedergang der linken Partei
16. November 2023Syriza, das Bündnis der radikalen Linken in Griechenland, hat eine einmalige Geschichte im Europa des 21. Jahrhunderts. Vor der Finanz- und Eurokrise war Syriza eine kleine, eher moderate linke Partei, die bei Wahlen nur mit Mühe über die Drei-Prozent-Hürde kam. Ihre politischen Gegner fanden sie sympathisch - vor allem, weil sie unbedeutend war. Dafür war sie mutig, denn schon Anfang 2008 hatte sie einen - für griechische Verhältnisse - Jüngling zum Vorsitzenden gewählt: den damals 34-jährigen Alexis Tsipras.
Es war das Jahr, in dem Griechenland bankrott ging. Die zwei traditionellen Regierungsparteien, die konservative Nea Dimokratia und die sozialdemokratische Pasok, die mitverantwortlich für die Finanzkatastrophe waren, erwiesen sich als unfähig, das Land aus der Krise zu führen. Also setzten die Bürgerinnen und Bürger ihre Hoffnungen auf die linke Syriza und den charismatischen Tsipras. Gegen den europäischen Trend, der damals eher konservativ war.
Syriza war die umstrittene griechische Antwort auf die Krise. Sie kam 2015 an die Regierung, um das Spar- und Reformdiktat der europäischen Partner zu beenden. Doch dieses Versprechen konnte die Partei nicht erfüllen. Stattdessen setzte sie die harten "Rettungsprogramme" erfolgreich um, allerdings sozialer, als es die früheren Regierungen getan hatten. 2018 schaffte es Griechenland, den EU-Rettungsschirm zu verlassen, 2019 wurde Syriza abgewählt.
Von Niederlage zu Niederlage
Seit 2019 hat Syriza alle Wahlen verloren: Europawahlen, Parlamentswahlen, Kommunalwahlen. Die Partei wird immer schwächer. Von 36 Prozent im Januar 2015 stürzte sie auf knapp 18 Prozent im Juni 2023 ab. Sie ist zwar immer noch die stärkste Oppositionspartei in Griechenland und die größte linke Partei Europas, aber wahrscheinlich wird sie das nicht mehr lange bleiben.
Die Krise hat Syriza groß gemacht, und Alexis Tsipras war der "Klebstoff", der die Partei zusammengehalten hatte. Mittlerweile ist die Krise in Griechenland jedoch überwunden und Tsipras nach seinem Scheitern bei der Parlamentswahl im Juni zurückgetreten. An der Spitze der Partei steht nun Stefanos Kasselakis, ehemaliger Banker und Reeder, der neben der griechischen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt.
Der neue Vorsitzende will die Partei "säubern"
Der 35-jährige Kasselakis kam praktisch aus dem Nichts. Innerhalb weniger Wochen konnte er die Macht in der angeschlagenen Partei erobern und will diese nun radikal ändern, in Richtung Mitte. Er will Syriza von den sogenannten Altlinken "säubern". Er bedient sich einer Sprache, die der Linken fremd ist, und er hat keine Lust auf lange politische Diskussionen in den Parteigremien wie dem Zentralkomitee. Er spricht unvermittelt mit "dem Volk" über Tiktok, Facebook oder in direkter Ansprache auf der Straße.
Kasselakis, der erst vor kurzem aus den Vereinigten Staaten nach Griechenland kam, agiert, als ob er der Chef der US-Demokraten wäre - und zwar nicht von deren linkem Flügel. Seine grobe Art und zugleich die sture Weigerung seiner Parteigegner zu akzeptieren, dass sie gegen ihn verloren haben, führen nun zu der allmählichen Auflösung von Syriza.
Nach der zweitägigen Sitzung des Zentralkomitees am vergangenen Wochenende verließen 46 der 300 Mitglieder des Gremiums die Partei. Der bekannteste unter ihnen ist Euklid Tsakalotos. Er war Chefverhandler der Regierung Tsipras mit den Gläubigern nach dem Abgang von Yanis Varoufakis im Sommer 2015, anschließend bis 2019 Finanzminister. Seinem Beispiel folgen fast jeden Tag andere Funktionäre, Ex-Minister und bekannte Größen der Partei. Fraglich ist sogar, ob die Syriza-Fraktion die zweitstärkste im griechischen Parlament bleiben wird.
Die Sozialdemokraten von Pasok beobachten den Niedergang von Syriza mit heimlichem Genuss. Sie hoffen, dass die eigene Partei davon profitieren wird. Pasok hatte sich vor zehn Jahren praktisch pulverisiert, in der Politikwissenschaft sprach man von "Pasokifizierung". Jetzt sieht die sozialdemokratische Partei ihre Chance, wieder für die griechische Politik relevant zu werden - falls Syriza zerfällt.
Die zwei Szenarien
Die Auflösung und die Rückkehr zur Bedeutungslosigkeit ist eines der Szenarien für das Bündnis der ehemals radikalen Linken. Wenn die Partei bei den Europawahlen weitere Stimmen verliert, wenn ihre Wähler Richtung Pasok oder Richtung Kommunistische Partei (KKE) abwandern, oder wenn sie zu Hause bleiben, besteht die Möglichkeit, dass bei den nächsten Parlamentswahlen 2027 Syriza auf einstellige Werte sinken wird und keine Chance bekommt, je wieder zu regieren.
Im September 2023 gewann Kasselakis die Wahl zum neuen Parteichef mit dem Versprechen, dass er den konservativen Premierminister Kyriakos Mitsotakis schlagen und das Land regieren werde.
Doch im Moment braucht Mitsotakis keine Angst zu haben. Syriza verschwendet ihre ganze Energie auf interne Streitereien. Und die Medien berichten jeden Tag in allen pikanten Einzelheiten davon. Von Oppositionsarbeit gegen die Regierung Mitsotakis sieht man dagegen wenig.
Es gibt aber ein zweites Szenario, denn die griechische Politik im 21. Jahrhundert ist immer für eine Überraschung gut. Unter Stefanos Kasselakis könnte bald eine neue Partei entstehen, eine Partei der Mitte, modern und populistisch, die wieder Wahlen gewinnen kann. Sehr realistisch ist dieses Szenario nicht, aber nichts ist unmöglich in der griechischen Politik. So konnte noch im Juli 2023 niemand vorhersehen, dass ein Outsider wie Kasselakis Syriza erobern würde. Genau so wenig konnte man im Jahr 2010 voraussagen, dass eine kleine linke Partei wie Syriza Griechenland regieren würde.