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KatastropheTürkei

Gibt es Plünderungen und Lynchmorde im Erdbebengebiet?

14. Februar 2023

In Hatay schlägt Trauer in Angst und Wut um. Im Internet kursieren derzeit Videos von mutmaßlichen Plünderungen und von Gewalt gegen die angeblichen Täter. Wie sicher ist die Lage im Erdbebengebiet?

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Eine Aufnahme im Gegenlicht: In der Stadt Hatay, im türkischen Erdbebengebiet, arbeiten sich Rettungskräfte durch die Schuttberge
Rettungsarbeiten im türkischen Hatay: Wenn Helfer für Plünderer gehalten werden Bild: Erhan Sevenler/AA/picture alliance

Vier Männer liegen auf dem Boden. Der ältere halbnackt, die anderen in dunklen Hosen und Jacken. Zwei Polizisten schlagen mit Stöcken brutal auf sie ein und beschimpfen sie übel. "Menschen liegen unter den Trümmern und ihr Bastarde habt Nudeln geklaut? Wir haben euch in unser Land aufgenommen und was macht ihr? Stehlen?" Ein Polizist sprüht Pfefferspray in die Gesichter der hilflosen Männer. Ein anderer aus dem Hintergrund gibt das Kommando: "Brecht ihnen die Diebeshände".

Vermehrt kursieren solche Videos im Netz. Bisher hat der Türkische Menschenrechtsverein (IHD) Fälle über Gewalt lediglich im einstelligen Bereich registriert. Aber davon stammen fast alle aus Hatay.

In der südlichsten Provinz des Landes ist die Zerstörung groß. DW-Reporter vor Ort berichten von einer Verwüstung unvorstellbaren Ausmaßes. Die Stadt sehe aus, als ob sie seit Jahren ein Kriegsschauplatz gewesen wäre. Wer kann, verlässt die Stadt. Viele, deren Familienangehörige noch unter den Trümmern liegen, warten noch auf die Bergung.

Ein mehrteiliger Häuserblock liegt umgestürzt auf dem Boden
Die Zerstörung in Hatay ist großBild: DHA

Mehr als 12.000 schwere Maschinen sind laut türkischer Katastrophenschutzbehörde AFAD im gesamten Erdbebengebiet im Einsatz, räumen Schutt, Stahl und Beton weg. Weiterhin dringend nötig sind winterfeste Zelte, Heizgeräte, Stromaggregate, Wasser, Lebensmittel und Medikamente. Fließendes Wasser und fehlende Latrinen machen den ohnehin komplizierten Alltag für Überlebende und Helfer noch schwerer. In manchen Orten mische sich der Gestank der geplatzten Abwasserleitungen mit dem Verwesungsgeruch, berichten Einwohner.

In dieser Lage hetzen Rechtspopulisten und Nationalisten vor allem gegen Geflüchtete oder diskriminieren Minderheiten. "Ein Syrer hat einen Supermarkt geplündert und auch Kondome geklaut", wird behauptet. Fotos von einer Kondompackung sind im Umlauf.

Die Türkei sei noch nicht mal in der Lage, die eigenen Bürger zu versorgen. Die Geflüchteten sollten bitte schön verschwinden, schreiben User. Die Trauer schlägt in Wut und Verzweiflung um. Immer wieder werden auch unschuldige Menschen für Plünderer gehalten.

"Wir wurden in einer dunklen Straße verprügelt"

In einer Videobotschaft berichten zwei Männer aus Hatay, wie sie von Sicherheitsbeamten zusammengeschlagen worden seien. "Wir waren auf dem Rückweg von der Apotheke nach Hause", erzählt der ältere. "Sicherheitsleute haben uns aufgehalten. Wir hatten Medikamente für unsere Eltern in der Hand. Sie haben uns für Plünderer gehalten und verprügelt. Anschließend haben sie uns auf der Straße einfach so liegen gelassen." Auf seiner Stirn zeigt sich die tiefe rote Spur eines Schlagstocks. Sein rechtes Auge ist blau unterlaufen. "Bitte löscht alle Videos, die uns als Plünderer darstellen! Wir sind keine Plünderer", flehen sie die Community an.

Diese zwei jungen Männer wurden für Plünderer gehalten und krankenhausreif geschlagen.
Diese zwei jungen Männer wurden für Plünderer gehalten und krankenhausreif geschlagen.Bild: Privat

Auch fünf jungen Kurden aus Diyarbakir soll ähnliches widerfahren sein. Wie Menschenrechtler berichten, gingen die Männer als Freiwillige ins Erdbebengebiet. Vor ihrer Einreise hätten sie sogar eine städtische Bestätigung dafür eingeholt. Dennoch seien sie nach der ersten Bergung in der Provinz Adiyaman in die Wache mitgenommen worden. Dort habe man sie verprügelt und anschließend nackt in einer anderen Stadt ausgesetzt.

Tödlich endete ein Fall, auf den der Progressive Anwaltsverein (CHD) aufmerksam macht. Am Wochenende nahm die Gendarmarie in der Gemeinde Altinözü in Hatay zwei angebliche Plünderer fest. Für einen der Männer fand der Aufenthalt in der Wache ein schnelles Ende: Der Vater musste am nächsten Tag seinen toten Sohn identifizieren. Er habe von gebrochenen Rippen und einer gebrochenen Nase berichtet, heißt es beim CHD. Gestorben sei sein Sohn an einem Blutgerinnsel. Der andere Sohn liege noch im Krankenhaus, er sei auch gefoltert worden.

Lynchmord von Geflüchteten

In einem Twittervideo liegen drei Männer, sie sollen Geflüchtete sein, leblos auf einer Straße neben einem weißen Van. "Die Plünderer haben bekommen, was sie verdient haben", hört man aus dem Hintergrund. Die Augen eines leblosen Mannes, mit Blut im Gesicht, starren regungslos in den Himmel. Das Video wurde erst Montagabend von Twitter entfernt.

Wie der Türkische Menschenrechtsverein IHD betont, ist Folter ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und verjährt nicht. Der Verein ruft die türkischen Behörden dazu auf, die Täter umgehend ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Die Regierung müsse klar und deutlich betonen, dass Gewalt nicht ohne Folgen bleibe, und Folter und Selbstjustiz verboten sei.

Sicherheitslage angespannt

Der türkische Justizminister Bekir Bozdag nannte am Wochenende 75 Fälle von Plünderungen im Erdbebengebiet. In diesem Zusammenhang seien 57 mutmaßliche Beschuldigte in Gewahrsam genommen worden. Auch die Zeit für Polizeigewahrsam bei Raub und Plünderung sei auf vier Tage verlängert worden. Regulär beträgt sie höchstens 24 Stunden.

Der türkische Innenminister Süleyman Soylu warf dem österreichischen Rettungsteam vor, Lügen gegen die Türkei zu verbreiten.
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu warf dem österreichischen Rettungsteam vor, Lügen gegen die Türkei zu verbreiten. Bild: Muhammed Selim Korkutata/AA/picture alliance

Innenminister Süleyman Soylu wiederum behauptete am Sonntag, es gebe überhaupt keine Plünderungen in seinem Land. Für Sicherheit sei gesorgt. Das einzige Problem derzeit sei die Verbreitung von Lügen. Auch dem österreichischen Rettungsteam, das am Wochenende seine Arbeit aus Sicherheitsgründen unterbrach, warf er vor, Lügen und Desinformationen gegen die Türkei zu verbreiten. Michael Bauer, Sprecher des österreichischen Verteidigungsministeriums schrieb wiederum auf Twitter, die Retter des österreichischen Bundesheers würden ihre Arbeit unter dem Schutz türkischer Soldaten fortsetzen.

Deutsche Rettungsteams, die ebenfalls in Hatay im Einsatz waren, haben ihre Arbeit weiterhin ausgesetzt. Aus Sicherheitsgründen seien sie seit dem Wochenende überwiegend im Basislager geblieben, nur für konkrete Rettungseinsätze hätte das Team das Camp verlassen, sagte ein Sprecher des Technischen Hilfswerks auf Anfrage der DW.

Seit Montag ziehen immer mehr ausländische Rettungskräfte ab und kehren in ihre Heimatländer zurück, denn es gibt kaum noch Hoffnung, Opfer unter den Trümmern noch lebend zu finden. Auch deutsche Helfer landeten gestern Abend in der Heimat.

Am Flughafen Köln-Bonn kommt ein deutsches Helferteam in leuchtender Arbeitskleidung vom Einsatz aus der Türkei zurück
Rückkehr eines deutschen Teams aus der Türkei - es war in Hatay Kirikhan im EinsatzBild: Kadir Ilboga/Anadolu Agency/picture alliance

Wurden deutsche Teams im Einsatzgebiet bedroht? Wie das Technische Hilfswerk auf Anfrage der DW schrieb, sind seine Teams während der Rettungsarbeit im Erdbebengebiet nicht bedroht worden und haben auch selbst keine Gefahren erlebt.

Paramilitärische Gruppen in Hatay unterwegs?

Nach Angaben des Türkischen Menschenrechtsvereins sind in Hatay besonders Frauen, Kinder und Geflüchtete schutzlos. Paramilitärische Gruppen, die in einigen Vierteln unterwegs sind, tragen eher zur Unsicherheit bei.

Hatay ist die südlichste Provinz der Türkei an der türkisch-syrischen Grenze. Sie liegt eigentlich mehr als 200 Kilometer entfernt von Epizentren der verheerenden großen Erdbeben vom 6. Februar. Doch ist die Zerstörung dort sehr groß. In Hatay wurden auch der Flughafen, zahlreiche Krankenhäuser und das Gebäude der türkischen Katastrophenschutzbehörde (AFAD) zerstört. Dies erschwerten die Hilfen noch mehr. Erst am Montag hatte der Flughafen den Betrieb wieder aufgenommen.

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas