Türkei: Rückkehr der Grauen Wölfe?
22. Januar 2021Ein verwackeltes Video, gefilmt von einem Balkon, kursiert in den Sozialen Netzwerken und schockiert weite Teile der türkischen Öffentlichkeit: Es sind wilde Szenen zu sehen, ein Schlägertrupp von fünf schwarz gekleideten Männern attackiert den Oppositionspolitiker Selcuk Özdag von der religiös-konservativen Zukunftspartei (GP). Die Angreifer überfallen ihn vor seinem Haus in Ankara. Sie sind mit Schusswaffen und Eisenstangen bewaffnet. Özdag erleidet schwere Verletzungen, er muss ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Nach den Angreifern wurde umgehend gefahndet. Zwei von ihnen wurden schließlich wegen Körperverletzung festgenommen. Auch wenn der Angriff für den Lokalpolitiker relativ glimpflich ausgegangen ist, sind viele Türken alarmiert. Denn wieder einmal hatten die Angreifer Verbindungen ins rechtsextreme Milieu. Einer der Angreifer ist der Student Abdurrahman Gülseren, Mitglied der sogenannten 'Grauen Wölfe' in Ankara. Zudem gehörte der Wagen der Angreifer dem stellvertretenden Vorsitzenden des örtlichen Verbandes der Grauen Wölfe.
Erinnerungen an ein dunkles Kapitel der Geschichte
Die Ülkücüler, zu deutsch: "Idealisten", sind türkische Rechtsextreme, die in Deutschland unter dem Namen 'Graue Wölfe' bekannt sind. Mit brutalen Gewalttaten, Brandanschlägen und Morden verbreitete die Gruppierung besonders in den 1970er Jahren Angst und Schrecken. Vor allem das 'Massaker von Maras' im Jahr 1978 hat sich in das kollektive Bewusstsein der türkischen Bevölkerung eingebrannt: ein Mob aus Anhängern der Grauen Wölfe lynchte mehr als 100 Menschen, die der alevitischen Glaubensgemeinschaft angehörten.
Die Angst geht nun um, dass Verhältnisse von damals wieder einkehren, schließlich ist der Angriff auf Özdag kein Einzelfall: In der jüngsten Vergangenheit häuften sich rechtsextremistisch motivierte Attacken auf Pressevertreter oder Oppositionelle: Die Angriffe auf den Fernsehmoderator Afsin Hatipoglu oder den Zeitungsjournalisten Orhan Uguroglu des Oppositionsblattes Yenicag machten vergangene Woche Schlagzeilen.
Rechtsextremismus-Experte Fatih Yasli von der Abant Izzet Baysal-Universität in Bolu verweist darauf, dass sich die Grauen Wölfe lange Zeit zurückgezogen hätten, nun seien sie jedoch wieder auf dem Vormarsch. "Der Rückgang war damit zu erklären, dass ihr linkes Feindbild fast verschwunden war. Nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 haben die Proteste von Studenten oder Arbeitern auf den Straßen deutlich abgenommen". Linke hätten sich immer mehr von der Straße zurückgezogen und lösten dort keine Gegenreaktionen von Rechtsextremen aus, lautet seine Theorie.
Rechtsextreme in der Regierung
Der politische Arm der Grauen Wölfe, die ultranationale MHP, ist seit den Parlamentswahlen im Jahr 2018 an der türkischen Regierung beteiligt. Die Partei hat sich in einer Koalition - der sogenannten Volksallianz - mit der islamisch-konservativen AKP zusammengeschlossen und ist somit von einer radikalen Oppositionspartei zu einer Kraft mit Regierungsverantwortung aufgestiegen. "Die Nationalisten befinden sind jetzt in einer historischen Situation - alle Gruppen, Parteien und Strukturen, die sie als Bedrohung für den AKP-MHP-Block ansehen, werden als Feinde gebrandmarkt und bekämpft", sagt Yasli.
Die Partei stehe außerdem unter Druck, weil sich auch in den eigenen Reihen Auflösungserscheinungen bemerkbar machten: Nach einem Richtungsstreit gründete die ehemalige MHP-Politikerin Meral Aksener im Jahr 2017 die ultranationale IYI-Partei. Heute ist die ursprüngliche Splitterpartei eine ernstzunehmende Kraft, die, gemessen an den Wählerstimmen, mit der MHP gleichauf liegt.
Hat die MHP die Angriffe zu verantworten?
Die Opfer der Angriffe waren für ihre kritische Haltung gegenüber der MHP bekannt. Weil die Ultranationalisten traditionell den Grauen Wölfen nahestehen, gibt die Opposition ihr eine Mitschuld an den Angriffen. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei Kemal Kilicdaroglu von der CHP kritisierte, dass die Regierung sich tagelang nicht zu den Vorfällen geäußert, geschweige denn von ihnen distanziert habe. Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli wiederum bezeichnete die Vorwürfe als "Verschwörung". Es gebe keinen Anlass, seine Partei in die Nähe der Grauen Wölfe oder die Angriffe der letzten Wochen zu rücken. Solche Aussagen seien "nicht moralisch, legitim und legal", so der 73-Jährige.
Kritik folgt nun auch von einem Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Akteure: In einer gemeinsamen Erklärung kritisieren sechs Nichtregierungsorganisationen Präsident Recep Tayyip Erdogan und seinen Vize Bahceli. Sie seien "für die Angriffe auf Politiker, Medienschaffende und Oppositionelle verantwortlich", denn mit Drohungen und Beleidigungen hätte die Regierung die Weichen für ein feindseliges Klima gestellt.
Im Visier des Verfassungsschutzes
Die Grauen Wölfe haben sich auch in vielen europäischen Ländern organisiert. In Frankreich wurden sie im November 2020 verboten, auch in Berlin wird ein Verbot diskutiert.Die rechtsextreme Organisation und nahestehende Vereinigungen stehen unter Beobachtung durch den Bundesverfassungsschutz (BfV). Es gebe mindestens 11.000 Anhänger in Deutschland, heißt es im Jahresbericht der Bundesbehörde aus dem Jahr 2019. Der Bericht verweist darauf, es ihre Überzeugung sei, dass sie einer überlegenen türkischen "Rasse" angehörten. "Kurden, Armenier, Griechen, Juden und US-Amerikaner" würden von ihnen als Feindbilder definiert.