Thüringen: Warum sich Deutschland so empört
6. Februar 2020Der Aufstieg der Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren führte zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust, dem schlimmsten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte. Dieses schwere Erbe lastet auf den Deutschen. Die Angst vor einem Rückfall war nie ganz weg - auch weil im Nachkriegsdeutschland ehemalige Profiteure der NS-Zeit erneut Karriere machen konnten. Das prangerte die Protestbewegung der 68er später an, die unter anderem gegen Vertuschung und Schweigen protestierte. Eine aktive Erinnerungskultur gehört seither zur Staatsräson. Mit den Christdemokraten (CDU), eine der beiden großen Volksparteien in der Bundesrepublik, verpflichteten sich die deutschen Konservativen, politisch rechts von ihnen nie wieder eine Partei aufkommen zu lassen. Das gelang auch - bis die "Alternative für Deutschland" (AfD) die politische Bühne betrat.
Die Rechtspopulisten schafften es ab 2015, sich nach und nach politisch zu etablieren. Vor allem im Osten sind ihre Wahlerfolge mittlerweile so hoch, dass Mehrheiten gegen sie nur noch in ungewohnt breiten Bündnissen auch mit linken Parteien gefunden werden können. Und die beiden Volksparteien CDU und SPD verloren teils dramatisch an Zustimmung.
Eine verunsicherte Republik
In den ostdeutschen Bundesländern gärt es in der dortigen CDU schon länger. Es gab zuletzt immer wieder Vorstöße auch aus den Parlamenten heraus, über eine Zusammenarbeit mit der AfD nachzudenken. Umfragen zeigten, dass nicht alle abgeneigt sind. Generell ist im Osten die Bereitschaft, sich mit linken Parteien zu verbünden, weniger hoch als im Westen. Das hat auch mit der historischen Erfahrung einer linken DDR-Diktatur zu tun, deren Ende gerade einmal 30 Jahre her ist.
Die Vorgänge in Thüringen treffen also auf eine ohnehin nervöse und verunsicherte Republik. Die Parteienlandschaft ist im Umbruch. Ein möglicher Tabubruch lag deshalb schon länger in der Luft. In Berlin versuchte man, mit Verboten gegenzusteuern: Es werde keine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit den Rechtspopulisten geben, erklärte die Unionsspitze immer wieder. Doch die neue CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer kann sich schwerer durchsetzen als zuvor noch Angela Merkel.
Auch jetzt war es Merkel, die von einer Auslandsreise aus ein Machtwort sprach und forderte, die Wahl in Thüringen rückgängig zu machen. Kurz darauf gab der am Vortrag mit den Stimmen der AfD gewählte Ministerpräsident Thomas Kemmerich von den Liberalen seinen Rücktritt bekannt. Man habe die Reaktionen bewertet, so Kemmerich, und wolle keine Zusammenarbeit mit der AfD.
Thüringen, ausgerechnet Thüringen
Das mit 2,2 Millionen Einwohnern eher kleine Bundesland Thüringen sorgte auch deshalb für solche Schlagzeilen, weil dort schon einmal ein historischer Tabubruch stattfand. 1930 gab es in Thüringen die erste Landesregierung mit einer Beteiligung der Nationalsozialisten, der NSDAP. Darauf wies der nun unterlegene Kandidat der Linkspartei Bodo Ramelow hin. Auf Twitter zitierte Ramelow Adolf Hitler, der am 2. Februar 1930 den "größten Erfolg in Thüringen" festmachte, weil "ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen" war.
Ein weiterer Grund: Die AfD in Thüringen gilt als Hochburg der Radikalen innerhalb der AfD, des sogenannten völkisch-nationalen "Flügels", deren Vorsitzender Björn Höcke ist. In Thüringen wurde der "Flügel" gegründet, eine parteiinterne Strömung, die sich gegen eine zu moderate Ausrichtung der AfD wendet. Inzwischen hat der "Flügel" in der gesamten Partei eine solche Machtposition eingenommen, dass er Personal und politische Inhalte mitbestimmt. Der Verfassungsschutz stuft den Flügel als Prüffall ein, der im Verdacht steht, rechtsextreme Bestrebungen zu haben.
Stärkung der Radikalen in der AfD
Die Strategie, Rechtspopulisten in Bündnissen mit konservativen Parteien einzuhegen, wie es in Skandinavien oder zuletzt in Österreich passiert ist, wurde in Deutschland durchaus diskutiert. Doch dabei dachten viele an gemäßigtere Landesverbände und nicht an das Epizentrum der AfD-Radikalen. Gerade in westdeutschen Großstädten wie Hamburg gilt Höcke in der dortigen AfD als ein rotes Tuch. Doch im parteiinternen Machtpoker dürfte Höcke nun noch weiter nach oben rücken.
Dass die AfD in Thüringen an einem konstruktiven Kurs interessiert wäre, darf bezweifelt werden. Dort hieß es immer wieder, man wolle die CDU als Partei ablösen. Der Verleger Götz Kubitschek, einflussreicher Vordenker für die AfD und Freund von Höcke, schrieb bezugnehmend auf eine Zerreißprobe für die CDU: "So konstruktiv-destruktiv wie Höcke hat aus dieser Partei heraus noch keiner agiert. In Thüringen jemanden so auf einen Stuhl setzen, dass es in Berlin einem anderen Stuhl die Beine abschlägt: Das taktische Arsenal der AfD ist um eine feine Variante reicher."
Das ging nun so nicht auf. Thüringen steuert auf Neuwahlen zu. Doch offen ist, wer davon profitieren könnte - die AfD könnte dazu gehören. Denn der Tabu-Bruch ist geschehen - wenn auch nur für gut 24 Stunden.