Tafeln müssen Menschen abweisen
20. Oktober 2022Während die Inflation in Deutschland fast zehn Prozent erreicht und die Regierung in Berlin zu immer drastischeren Maßnahmen greift, um eine Energiekrise abzuwenden, verschlechtert sich die Lage der deutschen Tafeln. Die Freiwilligen-Organisationen, die Lebensmittel- und andere Spenden einsammeln und an Bedürftige verteilen, waren schon durch die Corona-Pandemie in Bedrängnis geraten. Durch steigende Lebenshaltungskosten und eine drohende Rezession hat sich die Lage der Tafeln weiter verschärft.
Die Regionalzeitungen in Deutschland sind voll von Berichten über bedürftige Menschen, die von überforderten ehrenamtlichen Helfern abgewiesen werden. Die Helfer haben begonnen, die schwindenden Vorräte noch weiter zu strecken, um langjährige Kunden zu unterstützen.
Tafeln "an der absoluten Kapazitätsgrenze"
"Die Anfragen nach einer Mitgliedschaft haben seit Anfang 2022 deutlich zugenommen", bestätigt Günter Giesa. Er arbeitet ehrenamtlich für die Tafeln in der Stadt Bonn. "Im Moment können wir nur neue Kunden aufnehmen, wenn andere Leute ihre Mitgliedschaft kündigen. Wir sind an der absoluten Kapazitätsgrenze", sagt Giesa. Das sei eine Schande, denn "die Menschen haben zunehmend Sorgen wegen ihrer finanziellen Situation und brauchen unsere Hilfe."
Tatsächlich leben in Deutschland bereits etwa 13,8 Millionen Menschen an oder unter der Armutsgrenze. Sie haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Experten befürchten, dass sich durch die massiv steigenden Energiepreise die Zahl der Betroffenen drastisch erhöhen wird: Haushalte der unteren Mittelschicht, die keine finanziellen Reserven haben, um die explosionsartig steigenden Rechnungen zu bezahlen, werden auf der wirtschaftlichen Leiter nach unten rutschen.
Krieg und Inflation führen zu steigendem Bedarf
Nach Zahlen von Tafel Deutschland, dem Dachverband der deutschen Tafeln, haben gut 60 Prozent der bundesweit mehr als 960 Standorte einen Anstieg der Nachfrage nach neuen Mitgliedschaften um bis zu 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet. Etwa 30 Prozent haben doppelt so viele Kunden wie vorher. Fast jede dritte Anlaufstelle hat einen Aufnahmestopp verhängt.
Die Überlastung ist zum Teil auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine zurückzuführen. Nach den Worten von Günter Giesa waren die ersten Märzwochen nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine extrem schwierig für die Tafeln: "Viele Menschen kamen ohne einen Euro, ohne Geld an, mit nichts als den Kleidern, die sie am Leib trugen."
Diese Erfahrung machte auch Kat, die vergeblich versucht hat, sich und ihr Kind bei einer Tafel in Köln anzumelden. Sie berichtet von chaotischen Szenen: "Sie hatten eine separate Schlange für die Neuankömmlinge, und in einigen Fällen kam es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen und den langjährigen deutschen Kunden, die dachten, sie würden eine besondere Behandlung erfahren."
Jetzt, da die ukrainischen Flüchtlinge in das reguläre Sozialsystem integriert sind, handelt es sich bei den meisten Neuankömmlingen bei der Tafel um Familien und Einzelpersonen, die von der Krise der Lebenshaltungskosten hart getroffen wurden. "Die Umstände sind in den letzten Wochen in der Tat drastisch geworden", sagt Günter Giesa über die Zahl der abgewiesenen Menschen. Er appelliert, dass die Menschen "Dinge mit langer Haltbarkeit wie Nudeln, Reis und Konserven" spenden sollten und nicht nur frische Waren wie Obst, Gemüse oder Milch. Die Bonner Tafel müsse schon jetzt kleinere Mengen an Lebensmitteln abgeben, um möglichst vielen Menschen zu helfen.
Appell der Tafel Deutschland
Die Statistiken der Tafel Deutschland zeichnen ein ähnlich düsteres Bild. Mindestens 62 Prozent der Tafeln meldeten im August, dass sie weniger Lebensmittel an jeden Haushalt ausgeben, eine Zahl, die seither wahrscheinlich noch gestiegen ist. Etwa die Hälfte der Tafeln hat ihre Arbeitszeit erhöht, um die Krise zu bewältigen, was zu physischen und psychischen Problemen bei den ehrenamtlichen Mitarbeitern geführt habe. Die Organisation berichtet auch von einem "erheblichen Rückgang" der Spenden, da immer mehr Menschen ihre Ausgaben einschränken.
Die Tafel Deutschland hat vor kurzem einen Aufruf gestartet, in dem sie um Solidarität bittet: "Ab dem Herbst werden viele Menschen ganz besonders auf Unterstützung angewiesen sein", heißt es da, man sei angewiesen auf Geld-, Sach- und Lebensmittelspenden. "Wer bei der örtlichen Tafel nachfragt, wird erfahren, was dort am meisten fehlt."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.