Tagebücher des Grauens
5. Januar 2005Augenzeugen, Helfer und Überlebende berichten über Ereignisse und Orte, die Journalisten manchmal gar nicht erst erreichen. Wie schon nach dem 11. September 2001 und während des Irak-Kriegs bezeichnen viele Nutzer Internet-Tagebücher, so genannte Weblogs, als das direkteste Medium der Berichterstattung über die Flut und die Hilfsaktionen in Südasien.
Zwischen Spannung und Hype
Autor Rick war zum Zeitpunkt der Katastrophe am Strand von Phuket in Thailand. Er hat seinen Augenzeugenbericht auf "phukettsunami.blogspot.com" veröffentlicht:
"Wir sahen diese Mauer. Wenn du einmal geblinzelt hast, hatte sie schon wieder ihre Position verändert - verdammt schnell. […] Ein paar Sekunden war jeder betäubt von dieser Mauer und den Geräuschen. Als hätte jemand mit dem Finger geschnipst, sind dann Hunderte aus ihrer Hypnose gerissen worden. Und fingen an zu laufen."
Ricks persönliches Tagebuch ist nur eines von Hunderten Weblogs zur Flutwelle in Südasien. Florian Rötzer vom Medienkultur-Magazin "Telepolis" sieht die schnelle und unmittelbare Berichterstattung als Vorteil der Blogs. Er warnt aber vor Euphorie: "Man sollte die Blogs nicht so überschätzen, wie das im Moment der Fall ist. Ich glaube, dass da ein bisschen Hype dabei ist." Außerdem seien die Tagebücher inzwischen nichts Neues mehr.
"Lagerhalle voll mit Kleidung"
Viele Blogger haben ihre Berichte Tage nach der Katastrophe umgestellt. Aus anfänglichen persönlichen Beschreibungen und Momentaufnahmen wurden Informationsdienste für freiwillige Helfer. Das dezentrale Desaster fordert weit verstreute und vernetzte Hilfe - die auf diesem Wege geleistet werden kann. So gibt es Listen von Tetanus-Impfstellen in Süd-Indien oder den Hinweis darauf, dass Indonesien Pfannen statt Fleisch braucht. Ein anderer typischer Eintrag von "SEA-EAT-Blog", dem größten Tsunami-Blog lautet:
"Der rote Halbmond in Malaysia meldet: Die Lagerhalle im Hauptquartier ist voll mit Kleidung - die Opfer brauchen sie nicht mehr. Die Organisation befürchtet, dass sie weitere gespendete Kleidungsstücke wegwerfen muss."
Ebenfalls am 2.1.2005 informiert der Autor "Morquendi" in "Chiens sans frontieres":
"Die Leute im Notlager in Moratuwa brauchen dringend trockene Nahrung. 100 Kilo Reis und 30 Kilo Linsen brauchen die 68 Familien mindestens pro Mahlzeit. Sie befinden sich im Sunanda-Tempel. Bitte meldet Euch bei Kelly über +94 773 ..."
Morquendi ist innerhalb weniger Tage zu einer Berühmtheit der Blogger-Szene geworden, weil er nur zwei Stunden nach der Mörderwelle anfing, mittels Handy und SMS ein Blog zu füttern. Sein Wissen bringt er seitdem in zwei viel gelesene Sammelblogs ein: "SEA-EAT-Blog" und "ChiensSansFrontieres".
Gemeinsam bloggt man stärker
"Hervorzuheben ist, dass sehr schnell einige Gruppen gemeinsame Blogs aufgezogen haben, beispielsweise um Informationen zu sammeln", sagt Florian Rötzer. "Ich glaube, es ist neu, dass man weggeht von den Einzelblogs hin zu Gruppenblogs."
Schon nach dem 11.September 2001 und während des Irak-Kriegs haben Weblogs oft kritisch und ungefiltert Bericht erstattet. Und auch diesmal erscheinen Kommentare wie dieser vom 4.1.2005 im "SEA-EAT-Blog":
"Aus den Flüchtlingslagern im Süden Sri Lankas hört man, dass die meisten allein gebliebenen Mädchen vergewaltigt wurden, von anderen Insassen oder Helfern. Die Lageraufseher sollen dafür verantwortlich sein."
Ob solche Horrorberichte stimmen, ist schwer zu überprüfen. Kaum ein Weblog hat redaktionelle Kontrollmechanismen der Inhalte, wie sie professionelle Journalisten anwenden. Für Florian Rötzer ist jedoch pauschales Misstrauen nicht angebracht: "Was in einer Boulevard-Zeitung steht, muss nicht unbedingt richtiger sein, als das, was in einem Blog steht. Da würde ich vorsichtig sein."
Der wohl bekannteste Eintrag dieser Tage bedarf wohl keiner Überprüfung. Die "New York Times", die "BBC" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" haben den Satz von Weblogger Fred aus Sri Lanka zitiert: "Niemand möchte hier derzeit Fisch essen."