Taiwan: MeToo-Vorwürfe gegen führenden Dissidenten Wang Dan
21. Juli 20231989. Wang Dan war 20 Jahre jung und Student an der renommierten Peking Universität. In diesem Schicksalsjahr führte er die chinesische Demokratiebewegung an. Er forderte politische Reformen, trat in den Hungerstreik und verbrachte nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni insgesamt sieben Jahre im Gefängnis. Erst 1998 durfte er kurz vor dem Staatsbesuch von US-Präsident Bill Clinton in Peking nach Detroit ausreisen, zur medizinischen Behandlung. Seitdem lebt er im Exil.
Den Taiwanesen Lee Yuan-Chun erinnert der Jahrestag des 4. Juni nicht nur an die kommunistischen Gräueltaten auf dem Tiananmen-Platz. "Jedes Jahr, wenn der 4. Juni näher rückt, der Tag also, an dem Wang Dan sich öffentlich äußern muss, wird mir schlecht und ich bin ruhelos. Ich habe Angst vor diesem Mann, Angst davor, seine Stimme zu hören und sein Gesicht zu sehen."
Wang habe versucht, ihn zu vergewaltigen, so Lee. Ermutigt durch die MeToo-Bewegung brach Lee schließlich sein Schweigen. Es soll der 6. Juni 2014 in New York gewesen sein. Lee war 19 Jahre alt. Wang habe ihn in einem Hotelzimmer gewaltsam von hinten geküsst, ihn aufs Bett gedrückt und sich selbst entkleidet, sagt er. Jedoch sei es ihm gelungen, Wang zurückzuweisen. Da sich Wang Dan nicht öffentlich entschuldigen wollte, hat Lee nun Strafanzeige gegen den 54-Jährigen erstattet.
Lees Anzeige hat eine Riesenwelle ausgelöst. Wang, eine schillernde Figur der Demokratiebewegung und Dozent an vielen Universitäten, unter anderem an der National Tsinghua University (NTHU), genießt ein hohes Ansehen in der Öffentlichkeit auf Taiwan. Wang wies Anfang Juni alle Vorwürfe in einer schriftlichen Stellungnahme zurück.
Neue Opfer?
Während der einmonatigen Recherche auf Taiwan fand die DW neue Zeugenaussagen und Menschen, die angaben, selbst Opfer zu sein und Wang der Täter. Es gibt Anzeichen dafür, dass Lee Yuan-Chun möglicherweise kein Einzelfall ist.
K., sein Name wurde von der Redaktion geändert, ist heute 34 Jahre alt. Er hat sich an den Ausschuss für Gleichstellung der NTHU gewandt und an die Deutsche Welle. Er gibt an, selbst Vergewaltigungsopfer von Wang Dan zu sein. "Ich will aussagen, um andere zu schützen", so K. Die NTHU hat als erste Reaktion bereits beschlossen, sämtliche Lehrveranstaltungen mit Wang im kommenden Wintersemester zu streichen.
K. war 23 Jahre alt, als Wang ihn zum ersten Mal über Facebook kontaktierte. K. sagt, er sei überrascht gewesen, dass Wang ihn kontaktiert habe. Er habe aber seine Freundschaftsanfrage gerne angenommen. Wang ließ ihn jedoch schnell wissen, dass er nicht daran interessiert sei, über Politik zu diskutieren, und lenkte das Gespräch stattdessen auf private Themen. "Facebook-Messenger ist ein Ort zum Entspannen. Lass uns über private Dinge reden", schrieb Wang in einer Nachricht an K., die der DW vorliegt.
Treffen am späten Abend
"Später hat er mich immer wieder in seine Wohnung eingeladen. Ich soll um 21 Uhr kommen und kann bei ihm übernachten", erinnert sich K. Auf die Frage der DW, warum er Wangs Einladung schließlich annahm, antwortet K., seine Neugier habe ihn getrieben. "Ich habe ihn sogar gefragt: Wenn ich bei Ihnen zuhause bin, kann ich geheime Dokumente oder Aufnahmen über die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz sehen?", erinnert sich K.
Doch K. bekam nichts von dem zu sehen. "An vieles kann ich mich nicht mehr erinnern. Er hat mir immer wieder Alkohol eingeschenkt: Bier und Rotwein." K. wurde betrunken. Als er wieder zu sich kam, sah er, wie Wang Dan die Wohnung putzte. "Er hat mich beschimpft, weil ich betrunken war und sein Bett vollgekotzt hatte. Er war sehr wütend", erinnert sich K.
Später, so behauptet K, habe Wang ihn dann sexuell missbraucht. Er selbst sei stark alkoholisiert gewesen und seine Erinnerung an die Details verschwommen. Er wisse nicht mehr, wie er am nächsten Tag nach Hause gekommen sei. Er habe nur im Kopf, dass er "Angst" vor dem wütenden Wang Dan hatte. und "den Anblick, wie er auf mir lag und ein Kondom überzog".
Nach dem taiwanesischen Strafgesetzbuch sind sexuelle Handlungen, bei denen der Rauschzustand einer beteiligten Person ausgenutzt wird, ein strafbares Verbrechen, das mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Im Dezember 2014 hatte K. seinem damaligen Partner in einer Nachricht mitgeteilt, dass Wang ihn zu sexuellen Handlungen gezwungen habe. Die Nachricht hat die DW prüfen können. Sein Partner verließ ihn kurz darauf.
Schwer belastet durch Weggefährten
Als Zeuge tritt ein weiterer langjähriger Weggefährte von Wang Dan auf, der ihn schwer belastet. Mit Rath spricht die DW exklusiv. 2014 reiste Wang mit seinem Assistenten nach Japan, wo Rath zu dieser Zeit lebte. Wangs Assistent sorgte dafür, dass ein frischgebackener Universitätsabsolvent Z. ein Hotelzimmer mit Wang teilte.
Z. kannte Wang noch nicht lange. Am nächsten Tag berichtete Z. Rath von einem Belästigungsversuch: "Wang hat sich Z. zwar nicht körperlich aufgedrängt, aber Z. fühlte sich nicht wohl. Am nächsten Tag wechselte er das Zimmer", so Rath gegenüber der DW.
In Japan soll Rath beobachtet haben, wie Wang Dan andere männliche Freunde unsittlich berührte. "Ich kann mich an mindestens drei Vorgänge erinnern. Wang hat sogar versucht, den Intimbereich der Geschädigten zu berühren", sagte er der DW. Laut Rath habe Wang Dan oft junge Männer als Begleiter auf Auslandsreisen eingeladen. Sein Assistent habe dann für gemeinsame Unterkünfte gesorgt.
"Die Menschen, die Wang Dan anspricht, haben in der Regel ähnliche Eigenschaften. Sie sind jung und unerfahren", sagt Fang Hao (Name geändert), ein ehemaliger Student von Wang, der DW. Wang habe bei seinem akademischen Runden Tisch "China Salon" regelrecht junge Männer rekrutiert. "Einige Studenten vergötterten ihn. So konnte Wang sein Netzwerk weiter spinnen"
Rath vermutet auch, dass Wang seine prominente Stellung dazu missbraucht habe, junge Männer sexuell zu belästigen. "Wang glaubt, sein Verhalten sei akzeptabel, obwohl es das nicht ist." Rath betonte jedoch, dass die chinesische Demokratiebewegung weit mehr als nur eine einzelne Person sei: "Der Kampf gegen die Kommunistische Partei Chinas hängt nicht von Wang Dan allein ab."
Wang Dan wollte sich zu den jüngsten Vorwürfen und den DW-Anfragen nicht äußern und verwies stattdessen auf laufende Ermittlungen.
Dieser Artikel ist das Ergebnis einer gemeinsamen Recherche mit dem Leiter des DW-Büros Taipei Tsou Tzung-han, der DW-Journalistin Yeh Chia-chun, dem freien Journalisten David Demes und der UDN-Redakteurin für Meinungsformate Lin Kuan-yu.