Taizé-Gründer Frère Roger wird 90
12. Mai 2005An manchen Tagen muss er sich auf einen Mitbruder stützen, um in die Kirche zu gelangen. Doch an geistiger Frische mangelt es Frère Roger trotz seines hohen Alters nicht. "Es ist ein Alter, das zählt", hat er einmal gesagt. Als Teenager bekam er eine schwere Krankheit, die lange Wanderungen in den Bergen notwendig machte. Während dieser Zeit kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, sein Leben in einer Ordensgemeinschaft zu verbringen.
"Als ich jung war, war ich betroffen von der Vorstellung, dass sich alle Christen auf denselben Gott berufen, aber dennoch getrennt bleiben, sich sogar gegenseitig verletzen", erinnert sich Roger, der am 12. Mai 2005 seinen 90. Geburtstag feiert. So entwarf er einen Lebensplan, schuf sein Credo: "Konkretisiere in deinem Leben die Versöhnung und sei damit nicht allein, sondern in einer Gemeinschaft von jungen Männern, die dir zu Brüdern werden sollen. Und du wirst verstehen, dass das Wesentliche vielleicht in einer Liebe besteht, die von Grund auf verzeiht."
Mit dem Fahrrad nach Taizé
Der charismatische Geistliche wurde 1915 als Roger Schutz-Marsauche im Schweizer Kanton Vaud geboren. Seine Mutter war eine Französin aus Burgund, sein Vater reformierter Pfarrer aus der Schweiz. Auf dessen Wunsch hin nahm Roger Schutz 1937 das Theologiestudium auf. Doch anstatt Pfarrer zu werden, schwang er sich 1940 auf sein Fahrrad und brach nach Frankreich, in die Heimat seiner Mutter auf. "Ich war auf der Suche nach einem Haus für ein gemeinschaftliches Leben mit Gebeten und Gastfreundschaft", erklärt Roger.
An den Tag, als er nach Taizé kam, ein kleines, verlassenes Dorf voll alter Leute, erinnert er sich noch wie heute. "Ich kam am 21. August gegen Mittag an und eine alte Frau lud mich zum Mittagessen ein", berichtet er. "Ich erzählte ihr, was ich vorhatte. Da sagte sie: 'Oh, wählen Sie Taizé! Nehmen Sie das alte, verlassene Herrenhaus hier. Wir sind so einsam.'" Die alte Dame hatte ihn überzeugt: Hier, im französischen Burgund, sollte er den Ort gefunden haben, den er für die Verwirklichung seiner Vision gesucht hatte.
Brennnesselsuppe und Selbstlosigkeit
In diesen ersten Jahren fanden in dem ehemaligen Herrenhaus Flüchtlinge, vor allem Juden, Schutz vor den Nazis. Taizé lag unweit der damaligen Demarkationslinie zum besetzten Frankreich. Nach Kriegsende kümmerte sich Roger Schutz um deutsche Kriegsgefangene. Immer mehr Freunde und Gleichgesinnte schlossen sich ihm an und 1949 legten die ersten sieben Brüder die klassischen Ordensgelübde ab. Sie wollten ein mönchisches Leben und Solidarität mit anderen Menschen miteinander verbinden. Die "Communauté de Taizé", die erste ökumenische Ordensgemeinschaft der Kirchengeschichte, war geboren.
Das Ackerland im Burgund gab jedoch nicht viel her. So mussten sich die Brüder anfangs oft mit Brennnesselsuppe und gesammelten Schnecken zufrieden geben. Einige arbeiteten auf den Feldern, gründeten, als ein ausbeuterischer Großgrundbesitzer die Erzeugerpreise drücken wollte, sogar eine Genossenschaft. Andere töpferten, schrieben theologische Werke oder Kinderbücher, malten, arbeiteten als Arzt oder in der Fabrik. Auf Spenden verzichteten sie, gleichzeitig kümmerten sie sich um Not leidende Menschen.
"Friedliche Koexistenz statt wirklicher Einheit"
Bekannt wurde die Gemeinschaft vor allem durch ihre Jugendarbeit, die ungezählte kirchenferne junge Menschen wieder in die Gemeinden zurückführte. Noch heute wird der der kleine Ort von jungen Pilgern aus allen Erdteilen besucht, wenn die Gemeinschaft zu einem ihrer Jugendtreffen einlädt. Doch weil mit den Jahren immer mehr Jugendliche kamen, wurde das "Konzil der Jugend" als "Pilgerweg des Vertrauens" durch wöchentliche Treffen in Taizé und "Europäische Jugendtreffen" am Jahresende fortgesetzt. Bis zu 60.000 Jugendliche diskutieren dann gemeinsam über Glaubens- und Sinnfragen, beten, singen und feiern zusammen.
Doch Kirchengeschichte wurde von Taizé aus nicht nur mit den Jugendtreffen geschrieben. Die Brüder waren Berater beim II. Vatikanischen Konzil und beim Weltkirchenrat. Auf Anregung des Gemeindevaters Frère Roger leben seit 1951 Brüder in kleinen Gemeinschaften mit den Besitzlosen in Asien, Afrika und Lateinamerika zusammen. Auch er selbst besucht regelmäßig die Elendsgebiete, um Zeichen der Versöhnung und der Einheit der Kirche zu setzen.
Trotz der beispiellosen Erfolgsgeschichte seines Projekts ist Roger über den heutigen Stand der Ökumene enttäuscht, spricht von einer "friedlichen Koexistenz statt wirklicher Einheit". Den Glauben daran, dass diese Einheit eines Tages kommen wird, hat der nun 90-jährige Träger des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen aber nicht aufgegeben.