Taliban-Führung vor Zerreißprobe
31. Juli 2015Sie waren die Herrscher über Afghanistan. Jahrelang hielten sie die Weltmacht Nummer eins, die USA, in Atem - nachdem sie als Sieger aus dem Machtvakuum hervorgegangen waren, das durch den Abzug der sowjetischen Besatzer entstand. Blüht ihnen nun der Untergang durch Diadochenkämpfe? Die radikalislamischen Taliban stehen nach dem Wechsel an der Spitze vor einer Zerreißprobe.
Am Donnerstag hatten sich die Ereignisse überschlagen: Erstmals hatten die Islamisten den Tod ihres bisherigen Führers Mullah Omar offiziell bestätigt - zwei Jahre nach dessen Ableben. Dann sickerte durch, auf einer Versammlung in Pakistan, im Grenzgebiet zu Afghanistan, hätten die Taliban "einstimmig" Achtar Mohammed Mansur zum Nachfolger gewählt. Er ist Ende vierzig, stammt aus Band-e-Timor, einem Dorf in der Provinz Kandahar, und kämpfte in den 80er Jahren an Omars Seite gegen die Sowjets. Während der Taliban-Herrschaft in den Neunzigern befehligte er sowohl die Luftwaffe als auch das zivile Luftfahrtministerium.
Kopfgeld: Zehn Millionen Dollar
Auch die Stellvertreter Mansurs wurden derweil öffentlich benannt: Siradschuddin Hakkani, der das mit den Taliban verbündete Hakkani-Netzwerk leitet und auf den die USA ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt haben, sowie Haibatullah Achundsada, der ehemalige Chef der Taliban-Gerichte.
Die Nachrichtenagentur Reuters zeichnet freilich ein ganz anderes Bild als die Islamisten-PR: Sie berichtet, die Wahl des Nachfolgers sei keineswegs einmütig verlaufen. Vielmehr hätten mehrere Mitglieder des innersten Zirkels das Spitzentreffen der Radikalen aus Protest verlassen - darunter der Sohn und ein Bruder Mullah Omars. Während die Taliban selbst den Führungswechsel auf einer Website als reibungslose Staffelübergabe darstellen, zeichnet sich womöglich längst ihre Marginalisierung ab.
Erosion der Macht?
Hinzu kommt der mögliche Verlust an Gefolgschaft: Ähnlich, wie die Terrororganisition Al-Kaida nach dem Tod Osama bin Ladens an Einfluss verlor, könnte auch das Ende der charismatischen Führungsfigur Mullah Omar - jetzt, da es der Weltöffentlichkeit und damit den eigenen Sympathisanten bekannt ist - für die Taliban eine Phase des Bedeutungsverlusts einleiten.
Den Gegnern der Taliban eröffnet der historische Machtwechsel demnach große Chancen. Für den afghanischen Friedensprozess dürfte der neue Mann in jedem Fall aufgeschlossener sein als sein Vorgänger, der der Islamisten-Miliz rund 20 Jahre lang vorstand. Mansur, bisher die Nummer zwei, gilt als Vertreter jenes Taliban-Flügels, der nach einem Ausgleich mit dem afghanischen Staat strebt. Sofern er sich im Führungszirkel behaupten kann, könnte dies die Verhandlungen deutlich erleichtern. Die Hoffnungen auf eine Ende des blutigen Konflikts in Afghanistan keimen vorsichtig auf. Erst vor einigen Wochen hatten die Taliban Friedensgespräche mit der afghanischen Regierung aufgenommen. Die erste Gesprächsrunde hatte nach zähen Vorbereitungen Anfang Juli in der pakistanischen Stadt Murree stattgefunden.
Die Ernennung Mansurs fällt in eine Phase, in der die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) den Taliban immer mehr Konkurrenz macht. Der neue Anführer hat somit nach außen wie nach innen gefährliche Kämpfe vor sich. Der interne Widerstand geht vor allem von einigen Mitgliedern der Quetta-Schura aus - dem Führungsgremium der Taliban - die Pakistan vorwerfen, zu viel Einfluss auf die Gruppe zu nehmen. Und Mansur gilt vielen als "Mann Pakistans". Er hat zeitweise selbst in dem Nachbarland gelebt.
Blutige Sommeroffensive
Der Friedensprozess, den Mansur voranbringen könnte, ist vielen Taliban-Vertretern ohnehin ein Dorn im Auge: Mehrere Kommandeure stellten die Legitimität der Gespräche offen in Frage. Noch vor der offiziellen Bestätigung von Omars Tod hatte eine Gruppe erklärt, nichts von einem Friedensprozess zu wissen. Auch hinderten die bereits laufenden Verhandlungen die Taliban nicht daran, an ihrer in diesem Jahr besonders blutigen Sommeroffensive festzuhalten.
Was dem neuen Machthaber zusätzlich zum Verhängnis werden könnte, ist sein Taktieren nach dem Tod der Nummer eins, Mullah Omar: Offenbar hat er nicht nur die Weltöffentlichkeit, sondern auch weite Teile der Taliban selbst bewusst über dessen Tod getäuscht - und das über Jahre hinweg. Lange hat dies die Strahlkraft der Miliz künstlich aufrechterhalten. Umso schneller könnte nun ihr Licht verblassen.
jj/doz (dpa, afp, rtr)