Die grüne Insel möchte Vorbild bleiben
23. Juli 2015"Sie wollen, dass wir ihnen die Schulden erlassen", schimpft Liam in einer Hörersendung im irischen Radio. Nur wenige Stunden musste Griechenland neue Reformauflagen akzeptieren, damit Verhandlungen über ein drittes Hilfsprogramm beginnen können. "Wer hat uns denn die Schulden erlassen?", fragt Liam. "Niemand. Lasst die Griechen schwimmen oder untergehen... von ihnen haben wir nichts bekommen."
Der griechische Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis sagte, Länder wie Irland seien seine "energischsten Feinde" gewesen, als er für einen Schuldenschnitt kämpfte. Wähler wie Liam bieten dafür vielleicht eine Erklärung.
Irlands Regierung wird seit der Wahl 2011 von Premierminister Enda Kenny geführt. Ein Jahr zuvor hatte das Land ein Hilfsprogramm erhalten, das den Druck der Schulden etwas abmilderte. Die Rückzahlung wurde um mehrere Jahre aufgeschoben, die Zinsen deutlich gesenkt; der Verkauf von Staatseigentum und andere politisch umstrittene Auflagen wurden verschoben oder ganz aufgegeben.
Kennys einziger Fehler war sein nur halbherziges Drängen auf einen Schuldenschnitt. Mehr Druck hätte entstehen können, als Griechenland ebenfalls Zugeständnisse forderte.
Doch Irland lehnte einen Schuldenschnitt für Griechenland ab, aus zwei Gründen. Da ist zum einen der Ruf des Landes: Die Befürworter der Austerität lobten Irland als Vorbild und Beleg dafür, dass eine schwächelnde Konjunktur durch straffe Sparpolitik wiederbelebt werden kann.
Der zweite Grund ist Wahltaktik: In neun Monaten sind Wahlen in Irland, und die Partei Sinn Féin, größter Rivale von Kennys Koalition, vertritt beim Schuldenschnitt eine ähnliche Haltung wie die griechische Syriza. Hätten die Griechen da, wo die Iren gescheitert sind, Erfolg, wäre das für Kenny ein Desaster.
"Musterschüler der Austerität"
Paul Murphy, Abgeordneter der irischen Anti-Austerity Alliance und Befürworter eines Schuldenschnitts, ist verärgert über die starre Haltung der Regierung. "Hätte es Syriza geschafft, Zugeständnisse auszuhandeln, dann wäre es für alle offensichtlich gewesen: Irlands Versuch, sich als 'Musterschüler der Austerität' zu präsentieren, führt zu einem schlechteren Ergebnis als die offene Auseinandersetzung mit der EU."
Stattdesssen rechtfertigt Premier Kenny seinen Widerstand gegen einen Schuldenschnitt mit Verweis auf die wirtschaftliche Erholung. Griechenland, sagt er, solle dem irischen Beispiel folgen.
Im vergangenen Monat sagte er Journalisten in Brüssel, Irland habe trotz der Sparmaßnahmen "nicht die Einkommenssteuer erhöht. Wir haben die Mehrwertsteuer nicht erhöht. Wir haben [die Sozialabgaben] nicht erhöht. Stattdessen haben wir Alternativen zu den vorgeschlagenen Maßnahmen entwickelt, um für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen."
Man könnte glauben, dass es geklappt hat. Irlands Wirtschaft wächst stärker als alle anderen in der Eurozone, plus 4,8 Prozent im vergangenen Jahr. Die Arbeitslosigkeit ist innerhalb von drei Jahren um ein Drittel gesunken und liegt jetzt bei 9,7 Prozent. Die Umsätze im Einzelhandel haben ihre Stagnation überwunden und im vergangenen Jahr um sieben Prozent zugelegt. Vor fünf Jahren machte das Haushaltsdefizit noch 32,4 Prozent der Wirtschaftsleistung aus, in diesem Jahr nur noch 2,7 Prozent. Zwar ist die irische Wirtschaft noch weit von ihren Boomjahren entfernt, doch sie scheint zumindest auf einen stabilen Wachstumspfad zurückgekehrt zu sein.
Die andere Seite der Medaille
Doch die Erzählung vom Aufschwung ist nicht die ganze Geschichte. Die Regierung hat innerhalb von fünf Jahren ihre Steuereinnahmen um 28 Prozent vergrößert - durch höhere Mehrwertsteuern und gestiegene Sozialabgaben (trotz Kennys gegenteiliger Behauptung), außerdem durch neue Steuern auf Grundbesitz und Wasser. Gleichzeitig hat sie die Staatsausgaben um zehn Prozent gesenkt, mit starken Einschnitten im Gesundheitssektor und Kürzungen bei Sozialleistungen für Eltern und Behinderte.
Die Unterstützung für Arbeitslose wurde ebenfalls gekürzt, besonders stark für jene, die jünger als 25 sind. Nach Angaben der irischen Regierung braucht man für einen ordentlichen Lebensstandard einen Stundenlohn von 11,65 Euro, doch Arbeitslose unter 25 erhalten nur 100 Euro pro Woche. Viele suchen ihr Glück daher im Ausland - die Zahl der Auswanderer ist die größte seit der Hungersnot von 1847. Insgesamt haben 112.600 Iren das Land seit 2011 verlassen; auf vier Menschen, die in dieser Zeit einen Job gefunden haben, kommen fünf Auswanderer, die vielleicht nie zurückkehren.
Rachegefühle?
Deutlich wird dieser Wandel an der Zahl offizieller Vereine für zwei populäre irische Sportarten: Gaelic Football, eine Mischung aus Rugby und Fussball, und Hurling, eine Art Feldhockey. Auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsboom 2008 gab es außerhalb Irlands 291 von Auswanderern gegründete Vereine; heute sind es 398. In der irischen Heimat ist die Zahl der Vereine im selben Zeitraum von 1908 auf 1355 gefallen, selbst lange rivalisierende Clubs mussten sich zusammenschließen, um überhaupt noch genug Spieler zu haben.
Griechen, die das irische Wirtschaftsmodell selbst erlebt haben, ziehen ihre eigenen Schlüsse: "Es ist sehr schade, dass sich Politiker manchmal nicht von der Realität leiten lassen, sondern von Rache", sagt Konstantinos Drakakis, Präsident der griechischen Gemeinde in Irland.
Er versteht, warum die Iren einen Verhandlungserfolg der Griechen verhindern wollten, der ihnen selbst verwehrt geblieben ist. "Ich lebe in Irland und kenne die Vorstellung von Fairness hier. Vielleicht hat sich die irische Regierung gefragt: Warum müssen wir leiden, die Griechen aber nicht?", so Drakakis. "Dabei wird vergessen, dass auch die Griechen stark leiden - und zwar unter Reformen, die nicht umgesetzt wurden."