Tausende Afghanen fliehen täglich in Iran
11. November 2021Täglich fliehen derzeit rund 4000 bis 5000 Afghanen vor den militant-islamistischen Taliban nach Angaben einer Hilfsorganisation in den Iran. "Tausende von erschöpften Frauen, Kindern und Männern überqueren jeden Tag die Grenze von Afghanistan in den Iran auf der Suche nach Sicherheit", sagte der Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC), Jan Egeland, bei einem Besuch im Iran.
Man könne nicht erwarten, dass der Iran so viele Afghanen aufnehme, wenn die internationale Gemeinschaft so wenig Unterstützung leiste. "Die Hilfe muss sofort aufgestockt werden, sowohl innerhalb Afghanistans als auch in den Nachbarländern wie dem Iran, bevor die tödliche Winterkälte einbricht", sagte Egeland.
Der Aufruf des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen zur Unterstützung von geschätzt 515.000 Afghanen, die bis Ende des Jahres in die Nachbarländer fliehen könnten, sieht laut NRC die Bereitstellung von fast 300 Millionen US-Dollar vor. Der Aufruf sei bisher nur zu 32 Prozent finanziert. Schätzungen zufolge sind seit der Machtübernahme durch die Taliban mindestens 300.000 Afghanen in den Iran eingereist.
Im Iran leben den Angaben zufolge rund 3,6 Millionen Afghanen. Insgesamt sind knapp fünf Millionen Afghanen laut NRC außerhalb des Landes auf der Flucht. Davon wurden 90 Prozent vom Iran und Pakistan aufgenommen. Die Zahl der ankommenden Menschen steigt laut NRC weiter an. Dieser Trend könne sich noch verstärken, wenn der afghanische Winter komme. Auch wenn noch nicht viele afghanische Flüchtlinge nach Europa kämen, sollten die reichen Länder ihre Hilfe aufstocken und ihre Grenzen für Flüchtlinge offen halten, sagte Egeland.
Eine der integrativsten Flüchtlingspolitik weltweit
Der Iran als eines der am stärksten von COVID-19 betroffenen Länder in der Region habe afghanische Flüchtlinge impfen lassen, berichtete der NRC. Afghanische Kinder könnten ungeachtet des rechtlichen Status ihrer Eltern in öffentliche Schulen gehen. "Dies ist ein Beispiel für eine der integrativsten Flüchtlingspolitiken der Welt."
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) registriert dagegen auch regelmäßige Abschiebungen. Demnach schickt der Iran trotz der humanitären Krise im Nachbarland jede Woche zehntausende afghanische Flüchtlinge zurück in ihre Heimat. In diesem Jahr wurden demnach bereits mehr als eine Million Afghanen zurückgeschickt - allein rund 28.000 in der letzten Oktoberwoche.
Erhöhtes Verfolgungsrisiko für bestimmte Gruppen
Für viele ist nicht allein die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes ein Problem. Nach Einschätzung der EU-Asylbehörde EASO gibt es für bestimmte Asylbewerber aus Afghanistan ein erhöhtes Risiko, verfolgt zu werden. Dazu zählten frühere Angehörige der afghanischen Armee und Sicherheitskräfte, Mitarbeiter ausländischer Regierungen, Medienschaffende oder etwa Menschenrechtsaktivisten, hieß es in der veröffentlichten Analyse der in Malta ansässigen Behörde. Das liege dran, dass die Taliban ihre Kontrolle in Afghanistan ausweiteten.
Landesweit gebe es keine Alternativen mehr für viele Antragsteller, um Schutz zu finden, hieß es in dem Bericht weiter. Städte wie Kabul, Herat oder Masar-i-Scharif, die vorher als potenziell sicher für einige Asylanwärter galten, seien das nicht mehr. Die Übernahme der Taliban dürfte sich auch weiter negativ auf die Stellung von Frauen und Mädchen auswirken, unter anderem wegen der gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Vorstellungen.
EU: Anstieg afghanischer Asylanträge
Nach Angaben der EASO stiegen im August - dem Monat der Machtübernahme der Taliban - die Asylanträge in der EU von Menschen aus Afghanistan um 38 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Damit stellten sie die größte Gruppe unter den Asylsuchenden. Zuvor war über Jahre hinweg Syrien das Hauptherkunftsland.
Der Bericht der EASO soll Entscheidern und Politikern im europäischen Asyl-System bei der Prüfung der Anträge helfen. Für viele gesellschaftliche Gruppen erstellt die Behörde zum Beispiel Profile und ordnet dabei etwa deren Risiko ein, verfolgt zu werden
Weltweit sind mittlerweile mehr als 84 Millionen Menschen auf der Flucht vor Gewalt, Unsicherheit und Folgen des Klimawandels. Das geht aus einem in Genf veröffentlichten Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervor. Demnach setzte sich ein steigender Trend fort. Zuletzt hatten die Vereinten Nationen die Zahl von 82,4 Millionen Flüchtlingen für Ende 2020 angegeben.
bri/sti (dpa, afp, kna)