Tausende Stimmen gegen Judenhass
14. September 2014Ute Jakuscheit aus Hannover steht mit einer israelischen Fahne vor der Tribüne am Brandenburger Tor. Dort hängt ein Transparent mit der Aufforderung "Steh Auf! Nie wieder Judenhass!" In einigen Minuten soll unter diesem Motto die Kundgebung beginnen, zu der der Zentralrat der Juden aufgerufen hat. Die junge Christin ist extra aus Hannover angereist, weil sie spürt, "dass der Antisemitismus in Deutschland zunimmt". Sie möchte zu Israel stehen, sechsmal war sie schon dort, in zwei Wochen fährt sie wieder dorthin. Auch Klaus Kurz, ein Handwerksmeister aus Berlin-Mahlsdorf, hat als bekennender Israelreisender die blau-weiße Fahne mit dem Davidstern geschultert. "Die Juden", so beklagt er, "haben in Deutschland den Medienkrieg verloren". Sie würden als Aggressoren hingestellt und niemand rede von den dreieinhalb tausend Raketen, die auf Israel niedergegangen sind.
Es sind einige Tausend Menschen, die wenig später die Worte von Dieter Graumann hören, der von einem "antisemitischen Ausbruch" in Deutschland spricht, an dem es nichts zu bagatellisieren gebe. Wenn auf deutschen Straßen gebrüllt werde, Juden seien "Schweine" und sollten "vergast" oder "verbrannt" werden, dann habe das nichts mit Kritik an Israel wegen des Gaza-Konflikts zu tun, sagt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: "Das ist der pure, widerwärtige Antisemitismus und gar nichts sonst!"
Merkel: "Ein ungeheurer Skandal"
Benjamin Feldhahn, ein hoch aufgeschossener 22-Jähriger, der einen dunklen Anzug und eine blaue Kippa trägt, kennt solche Anfeindungen aus eigenem Erleben. Er ist aus Hagen nach Berlin angereist. Vor dem Jüdischen Gemeindehaus seiner Heimatstadt seien auch schon antijüdische Parolen gebrüllt worden, berichtet er: "Es ist schon ein beängstigendes Gefühl, dass unser Gemeindehaus jetzt nachts von der Polizei geschützt werden muss."
Zur traurigen Wahrheit gehöre, dass solche Parolen "weit überwiegend" von muslimischen Fanatikern kämen, betont vorn auf der Tribüne Dieter Graumann. Die allermeisten Muslime in diesem Land dächten aber anders, vermutet er. Man suche weiterhin ihre Nähe und ihre Freundschaft. Und man verurteile "von ganzem Herzen", dass in den letzten Wochen in Deutschland Moscheen angegriffen wurden.
Auch Kanzlerin Angela Merkel geht in ihrer Rede auf die durch den Gaza-Konflikt aufgeheizte Atmosphäre ein, die auch in Deutschland ihre Spuren im ohnehin schwierigen Verhältnis zwischen Juden und Muslimen hinterlassen hat. Sie weise alle antisemitischen Äußerungen und Übergriffe zurück, sagt die Kanzlerin, "die zuletzt auf pro-palästinensischen Demonstrationen als vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel daherkamen, tatsächlich aber einzig und allein Ausdruck des Hasses auf jüdische Menschen waren". Ungewohnt scharf ist die Wortwahl Merkels auf dieser Kundgebung und hart ihr Ton.
Dass heute Menschen in Deutschland angepöbelt und angegriffen würden, wenn sie sich irgendwie als Juden zu erkennen geben oder auch für den Staat Israel Partei ergreifen würden, das sei ein ungeheurer Skandal: "Das nehme ich nicht hin und das nehmen wir alle nicht hin, die wir hierher gekommen sind", ruft die Kanzlerin ins Mikrofon.
Hass gegen Religionen am Pranger
Nicht alle, die gekommen sind, haben aber nur die Situation der Juden im Blick. Eine Gruppe von Frauen und Männern schwenkt assyrische Fahnen. Die Frage, ob sie denn auf der richtigen Veranstaltung seien, beantwortet Charo Malkis, ein 28-jähriger Informatikstudent aus Berlin, ohne Zögern: Ja, denn es gehe nicht nur um den Schutz von Juden, sondern von Religionen allgemein. Er sei assyrischer Christ, sagt er, und fordere von Frau Merkel, dass sofort eine Schutzzone für Christen in Syrien und dem Irak eingerichtet werde: "Wir leben auch im Nahen Osten und werden religiös verfolgt." Solidarisch sei er auch mit den Juden, "denn sie sind Semiten wie wir".
Was auffällt an diesem Nachmittag vor dem Brandenburger Tor: Viele Touristen sind angelockt worden von der lauten Kundgebung und der versammelten Polit-Prominenz, darunter Bundespräsident Joachim Gauck, zahlreiche Minister und auch Ex-Bundespräsident Christian Wulff, der einst den Satz prägte, auch der Islam gehöre zu Deutschland. Es wird englisch gesprochen, arabisch, japanisch. Aber vor allem auch russisch, die Muttersprache zahlreicher neuer Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Deutschland, die in den letzten beiden Jahrzehnten aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Sie haben die jüdische Gemeinde zahlenmäßig enorm vergrößert.
Kirchen erklären Solidarität
Manche fragen, ob jüdisches Leben in Deutschland überhaupt noch eine Zukunft haben kann, sagt Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrats. Doch man lasse sich nicht einschüchtern. Das Judentum sei ein Teil der Zukunft in Deutschland.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, sagte, er höre das mit großer Freude und Erleichterung. Auch die Kirchen sähen im jüdischen Leben in der Nachbarschaft keine Last, sondern eine Bereicherung. Und der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, ergänzte: "Wir sind ihre Freunde, wir stehen zusammen, für immer."
Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, sagte auf der Kundgebung am Brandenburger Tor, Deutschland sei seit 1945 eines der verantwortungsvollsten Länder der Welt. Der ansteigende Antisemitismus habe darauf einen Schatten geworfen. Man müsse verhindern, dass er 70 Jahre guter Arbeit einfach zunichte mache.