"Sprich mit mir" – der neue Roman von T.C. Boyle
7. Februar 2021Die Geschichte ist unglaublich, aber wahr: In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben US-amerikanische Forscher Schimpansen-Babys ihren Tiermüttern entrissen und sie wie eigene Kinder in ihren Wohnungen und Häusern aufgezogen.
Die jungen Tiere trugen T-Shirts und Latzhosen, man versuchte, ihnen Gebärden beizubringen, um mit ihnen zu kommunizieren. Dahinter steckte die Frage: Was unterscheidet uns Menschen von den Tieren? Können Schimpansen, deren Erbgut zu 98 Prozent mit dem menschlichen übereinstimmt, unsere Sprache lernen?
Es ist eine Geschichte, wie gemacht für einen Roman von T. C. Boyle, der sich in seinen bisher 19 Romanen schon oft mit manchmal kruden Ideen realer Wissenschaftler und Erfinder beschäftigt hat. Sein neuestes Buch heißt "Sprich mit mir", der Roman ist zuerst auf deutsch erschienen und kommt im Frühjahr in den USA heraus.
Die Hauptfigur heißt Sam und ist ein Schimpanse. Er lebt unter der Obhut des Forschers Guy, dem eine ganze Schar von Studenten zur Seite steht. Sam liebt Cheeseburger, trinkt Champagner und hängt mit der Gruppe vor dem Fernseher ab. Und er lernt jeden Tag mehr, sich mit Gebärden auszudrücken.
Was unterscheidet den Menschen vom Affen?
"Mir ging es um die Frage von Sprache und Identität", erzählt der Schriftsteller T.C. Boyle am Schreibtisch seines Hauses im kalifornischen Montecito: "Wir Menschen sind doch auch nur Tiere. Worin also besteht der Unterschied zwischen uns und den Menschenaffen?"
Den Unterschied lernen die Wissenschaftler im Roman bald kennen: Je älter Sam wird, desto unberechenbarer wird er. Und es kommt, wie es kommen muss. Der Leiter des Programms, Dr. Moncrief, beendet das Projekt und lässt Sam in sein Forschungsinstitut bringen, wo er nun unter seinesgleichen in einem Käfig hausen muss. Ihm droht ein Ende als Versuchstier in der Aids-Forschung.
Aber Moncrief hat die Rechnung ohne Aimee gemacht, eine der Studentinnen in Guys Forschergruppe. Sie entführt Sam aus der Gefangenschaft und flüchtet mit ihm in einen Trailerpark in Arizona – umgeben von Aussteigern und Underdogs. Aimee schlägt sich als Putzfrau durch, und Sam ist immer dabei. Ein liebevoller Gefährte, Kind, Geliebter und Beschützer in einem.
Kann das gut ausgehen? Natürlich nicht. Aber bis zum bitteren Ende dieses furiosen Romans erleben die Helden der Geschichte noch etliche Abenteuer – erzählt aus verschiedenen Perspektiven, auch der von Sam, der mitunter empathischer handelt, als es seine menschlichen Begleiter tun. Ein typisches Boyle-Universum, für das ihn seine Millionen Fans in Deutschland wieder lieben werden.
„Wir sind ohnehin dem Untergang geweiht"
Was aber fasziniert T. C. Boyle (Jg. 1948), der als Punk unter den berühmten US-amerikanischen Autoren gilt, immer wieder an durchgeknallten Wissenschaftlern - wie zum Beispiel den Sex-Forscher Dr. Kinsey in "Dr. Sex" oder an Timothy Leary, der in "Das Licht" mit bewusstseinserweiternden Drogen experimentierte? Boyle interessieren die Fragen, die mit diesen Studien beantwortet werden sollten. Was ist eigentlich Bewusstsein? Kann man Liebe von Sex trennen? Und immer wieder: Wie weit darf die Forschung bei ihren Experimenten gehen?
Der extrem produktive Schriftsteller - fast jedes Jahr bringt er ein Buch heraus - will das nicht als generelle Abrechnung mit der Wissenschaft verstehen, sagt er im DW-Interview. Im Gegenteil: Gerade heute, in Zeiten der weltweiten Corona-Pandemie, sollten wir der Wissenschaft vertrauen, ihr Respekt entgegenbringen.
Aus gutem Grund: "Es sind Mikroben, die die Welt regieren. Wir müssen endlich begreifen, dass wir alle derselben Art angehören, dass wir nicht so weiter machen können wie bisher, damit wir – wenn die nächste Pandemie kommt – hoffentlich besser vorbereitet sind. Tatsächlich glaube ich, dass wir ohnehin dem Untergang geweiht sind."
Der echte Versuchs-Schimpanse, der im wahren Leben Nim Chimpsky genannt wurde, hat ein trauriges Ende genommen. Nachdem er aus der "Forscherfamilie", in der er aufgezogen worden war, herausgerissen wurde, landete er als Versuchstier zunächst in der Forschung. Er starb mit 26 Jahren in einer Einrichtung für traumatisierte Tiere.