Demokratisierungsprozess braucht Zeit
30. Januar 2013DW: Die ägyptische Regierung hat per Gesetz erlaubt, dass die Armee Zivilisten verhaften und die Polizei bei Sicherheitsaufgaben unterstützen darf. Wie besorgt ist die EU, dass Präsident Mohammed Mursi noch härter gegen die Opposition vorgehen könnte?
Jan Techau: Die Europäer sind sehr besorgt, dass der Übergangsprozess in Ägypten außer Kontrolle geraten und in eine falsche Richtung laufen könnte. Es gibt viele Hinweise, dass dies bereits der Fall sein könnte. Viele Leute sind sehr enttäuscht von Mursi und wie er das Land führt. Man muss aber auch sehen, dass Ägypten nach so vielen Jahren unter autokratischer Herrschaft nicht über Nacht zu einer Demokratie werden kann. Deshalb ist Brüssel bereit, den Ägyptern mehr Zeit einzuräumen. Aus EU-Sicht ist es wichtig, dass die öffentliche Ordnung wiederhergestellt wird.
Seit Beginn der jüngsten Unruhen sind viele Menschen getötet worden. Was muss noch passieren, ehe die EU aktiv wird?
Die EU kann da nicht viel machen. Ein Grund für die Revolution, die Mursi an die Macht gebracht hat, war ja der Wunsch der Ägypter, eigene Entscheidungen treffen zu können. Sie wollen keine Einmischung von außen. Es geht ihnen um Handel und um Entwicklung im weitesten Sinn. Investitionen und Vereinbarungen in diese Richtung haben die EU und Ägypten erst vor kurzem abgeschlossen. Aber politischen Einfluss erhält man dadurch kaum.
Muss die Opposition kooperativer sein? Mursis Einladung zum Krisengespräch hat sie ausgeschlagen.
Nein, der Ball ist vor allem in Mursis Feld. Er hat noch nicht ganz begriffen, dass man nicht einfach die alte autokratische Herrschaft durch eine andere ersetzen kann, nur jetzt unter Führung der Muslimbruderschaft. Die Revolution hat die Situation verändert. Viele Gruppen haben jetzt eine Stimme und müssen mitbestimmen dürfen. Sozialen Frieden in Ägypten wird es ohne ernsthafte Gespräche mit ihnen nicht geben.
Haben die EU und die USA irgendetwas in der Hand, das Mursis Bemühungen um ein Ende der Gewalt in seinem Land unterstützen könnte?
Nein, fast gar nichts. Für die Ägypter ist der Handel mit Europa äußerst interessant. Das gibt den Europäern eine gewisse Handhabe. Die wirkt aber eher langfristig politisch und dient nicht der unmittelbaren Krisenbewältigung. Das gleiche gilt für die USA, die eine starke militärische Kooperation mit Ägypten haben. Aber weil das Militär nicht mehr so großes Gewicht hat wie früher, ist es schwieriger, in dem Bereich Einfluss auszuüben.
Amerikaner wie Europäer werden auf ein einigermaßen gesittetes Ende der Krise hoffen, um danach den langfristigen politischen Prozess wieder aufnehmen zu können, in dem sie einen größeren Einfluss haben.
Ägypten ist die Wiege der Muslimbruderschaft. Wie wichtig ist die Entwicklung des Landes und seines Präsidenten Mursi in Bezug auf das Verhältnis des Westens zu der gesamten Region?
Die herausragende Bedeutung Mursis ist nicht nur darin begründet, dass Ägypten die Wiege der Muslimbruderschaft ist. Deren politischer Charakter unterscheidet sich in den Ländern der arabischen Welt, in denen es zu Revolutionen gekommen ist. Es gibt keine übergeordnete Ideologie der Muslimbruderschaft, der alle verpflichtet sind.
Ägypten ist von jeher das kulturell und wirtschaftlich führende Land der Region. Es hat eine Vorbildfunktion für andere demokratische Gesellschaften. In dieser Verantwortung steht Mursi, der sehr unterschiedliche Signale aussendet: Einerseits hat er große Schwierigkeiten mit der Situation im eigenen Land und viele Ägypter sind sehr unzufrieden mit ihm. Andererseits hat er es auf relativ geschickte Weise geschafft, dass das Abkommen mit Israel weiterhin Bestand hat. Es ist für die gesamte Region von großer Bedeutung, dass auch die neuen ägyptischen Machthaber von der Muslimbruderschaft sich an diesen Vertrag halten.
Wie wahrscheinlich ist es Ihrer Ansicht nach, dass die Forderungen der Opposition nach Korrekturen an der im Dezember per Volksentscheid beschlossenen islamistisch geprägten Verfassung erfüllt werden?
Mursi wird viel politische Führungsstärke beweisen müssen. Er muss verstehen, was gerade in seinem Land passiert und wie die Opposition zufriedenzustellen ist. Außerdem muss er seine eigene Machtbasis bewahren und die außenpolitische Lage im Blick behalten. Sicher ist im Moment nur, dass es in Ägypten zu lang anhaltenden Unruhen kommen wird, wenn die Forderungen der Opposition nicht wenigstens in Teilen erfüllt werden.
Jan Techau ist Europa-Direktor von Carnegie Endowment for International Peace in Brüssel.
Die Fragen stellte Nina Haase