Temelkuran: "Wertesystem auf den Kopf gestellt"
12. November 2016Die türkische Journalistin und Autorin Ece Temelkuran lebt und arbeitet in Istanbul für verschiedene türkische und internationale Medien. Wegen ihrer regierungskritischen Artikel kündigte ihr 2011 der Nachrichtensender Habertürk, für den sie damals moderierte. Ece Temelkuran hat bislang zwölf Bücher veröffentlicht, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Darin analysiert sie das schwierige Verhältnis zwischen der Türkei, den Armeniern und den Kurden. Außerdem schreibt sie über Meinungsfreiheit und Frauenrechte. Auf Deutsch sind bisher erschienen: "Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann" (2014) und "Euphorie und Wehmut: Die Türkei auf der Suche nach sich selbst" (2015).
DW: Seit 20 Jahren setzen Sie sich mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei auseinander. Die Verhaftungen seit dem vereitelten Militärputsch am 15. Juli 2016 werden damit begründet, dass man "die Demokratie schützen" und "den Terrorismus bekämpfen" wolle. Wie denken Sie, wird sich die Situation weiterentwickeln?
Ece Temelkuran: Wir haben längst den Punkt überschritten, an dem wir die Situation mit unseren Hoffnungen oder Ängsten bewerten können. Weder ist die Hoffnung stark genug, um Widerstand zu leisten, noch können uns unsere Ängste den richtigen Weg leiten. Von Anfang an wurden Fehler gemacht: Die jetzige Regierung überzeugte die Menschen davon, eine "gesellschaftliche Bewegung" zu sein. Die Türkei fiel auf das Narrativ herein, dass das wahre Volk die wahre Demokratie errichtet, indem es gegen die repressive Elite Widerstand leistet. Das war der Tag an dem die mobilisierte und organisierte Dummheit und Unwissenheit die Macht an sich riss. Alles weitere entwickelte sich von alleine. Jede Aktion der Mächtigen wurde innerhalb dieses Narratives legitimiert und heilig.
Dazu kommt, dass die gesellschaftlichen Institutionen, die in der Türkei ohnehin nicht sehr stark sind, in ihrer Funktionalität eingeschränkt wurden. Darauf wurde nicht genügend reagiert. Wichtiger aber ist, dass das Wertesystem völlig auf den Kopf gestellt wurde. Das ist ein globales Problem, das kollektiv gelöst werden muss. Die Konzepte der liberalen Demokratie, der Zivilgesellschaft und der Identitätspolitik müssen erneut unter die Lupe genommen werden. Alle werden sehen, dass das, was wir derzeit in der Türkei erleben, nicht nur eine Angelegenheit der Türkei ist, sondern mit der Krise des Neoliberalismus zusammenhängt.
Oppositionelle Stimmen werden zunehmend zum Schweigen gebracht. Sie sagen über sich selbst, Sie seien ein Angsthase. Was treibt Sie in diesen Zeiten an, dennoch weiter zu schreiben und weiterhin Kritik an der türkischen Regierung zu üben?
Ich denke, dass die Angst, irgendwann einmal kein Zuhause und keine Heimat mehr zu haben, stärker ist als alle anderen Ängste.
Sie sagen in der Türkei wolle man "eine neue Sorte Mensch" schaffen. Was meinen Sie damit?
Diese Sorte Mensch kennt keine Scham, ignoriert alle Normen, die sich die Menschheit bis zum heutigen Tag gegeben hat. Es gibt Leute, die das, was gerade in der Türkei geschieht, mit Nazi-Deutschland vergleichen. Es gleicht ihm nicht. Diese Veränderung geht viel tiefer. Es ist als würden alle grundlegenden Werte vertauscht, Gut und Böse, richtig und falsch. Stellen Sie sich vor, dass ein 14-jähriges Kind durch die Kugel eines Polizisten stirbt und der Mensch, der die ganze Macht in seinen Händen hält, lässt dieses Kind und seine Familie ausbuhen. Das kann man nicht nur durch Politik erklären. So etwas kann niemand machen, der nicht vorher sein Gewissen völlig verloren hat.
Sie leben noch immer in Istanbul. Deutschland hat türkischen Akademikern angeboten, in Deutschland Asyl zu beantragen. Haben Sie je daran gedacht, die Türkei zu verlassen?
Als ich das hörte, war ich sehr traurig. Es ist schmerzhaft zu sehen, dass das eigene Land zu einem der Orte geworden ist, bei dem es als legitim betrachtet wird, dass man ihm entfliehen möchte. Und in meinen 20 Jahren als Journalistin habe ich noch keinen glücklichen Flüchtling gesehen. Mir vorzustellen, die Türkei zu verlassen, ist für mich unmöglich. Solange meine Bücher erscheinen, reise ich in andere Länder, verschnaufe dort etwas und kehre in die Türkei zurück. Ich weiß, dass das Projekt "Neue Türkei" Menschen wie mich ausschließt. Aber wir "Brückenmenschen", die wir zwischen Asien und Europa leben, wissen durch unser genetisches Erbe, dass nichts für die Ewigkeit ist.
In diesem Jahr ist Deutschland Gastland bei der Istanbuler Buchmesse. Haben Sie Erwartungen an Deutschland in Bezug auf die Türkei?
Es gibt nichts, das ich von einem anderen Land erwarte. Aber man muss Folgendes verstehen: Die Entwicklung, die die Türkei heute durchmacht, werden wir bald in Europa haben. Es ist daher besser für uns alle, wenn wir das, was in der Türkei geschieht, nicht als Angelegenheit der Türkei, sondern als Angelegenheit von uns allen betrachten.
Das Gespräch führte Ceyda Nurtsch.